Die Bombe: Fünf eher unbekannte, total lesenswerte Bücher über den Atomkrieg.
Guten Morgen,
ich habe es angedroht, jetzt mache ich es: Anbei mein Reader zu meinen aktuell fünf lesenswertesten Büchern zum Atomkrieg. Eine Frage sei vorweg beantwortet: Warum sollte man so etwas lesen?
Die Antwort ist simpel: Nuklearwaffen sind ein Faktum. Seit 1945 gibt es nichts auf der Welt, was in so kurzer Zeit das Ende der Zivilisation einläuten kann. Wir mögen die Existenz der Bombe bis 2022 vergessen haben. Aber sie war immer da.
Gerade der gestrige iranische Angriff auf Israel und die möglicherweise noch ausstehende Antwort Israels, aber natürlich vor allem der russische Angriffskrieg in der Ukraine stehen in einem Kontext zur Atombombe. Die Fragestellungen sind komplex: Wann wird ein konventioneller Krieg möglicherweise atomar? Wie und auf welche Weise passiert das? Was folgt dann direkt? Und was folgt möglicherweise nach einem Schlagabtausch?
Nichts an diesen Fragen ist trivial. Die Herausforderung unserer wilden Zeit ist wieder, dass wir uns wieder mit ihnen beschäftigen müssen. Und das, obwohl uns BILD und Youtube Clips weismachen wollen, dass die Idee eines Atom- oder eines Weltkrieges (beide Begriffe sind nicht deckungsgleich) in vier Worte zusammenfassen lassen. Dem ist nicht so.
Dieses Spiel beherrscht aber auch Vladimir Putin meisterhaft, wie wir durch eine Vielzahl atomarer Drohungen aus den letzten zwei Jahren wissen. Drohungen übrigens, die auch Ende 2022 in westlichen Führungszirkeln zu einer regelrechten Atompanik führten. Gut für Putin in seinen brutalen Kriegszielen. Denn unser abtrainierter “Cold War Muscle” im Westen hilft ihm dabei, seine konventionellen Kriegsziele mit einer psychologischen Angstfigur zu erreichen. “Wir haben praktisch und intellektuell komplett abgerüstet”, schreibt Dr. Ulrike Franke in ihrem großartigen Artikel über das deutsche Millenial Problem nach 30 Jahren Frieden. Wer nichts mehr über Krieg und die Entscheidungen, die dahin führen, weiß, ist einfach abschreckbar.
Deshalb halte ich mehr öffentliches Wissen um den Nuklearkomplex wieder für extrem wichtig. Zynischerweise scheint es die Popkultur ähnlich zu sehen: Fallout ist ein postnukleares Game-Thema, das vor wenigen Tagen auf amazon als Serie veröffentlicht wurde (inklusive großer Explosionen), Oppenheimer heimst Oscars ein. Es fühlt sich wieder an, wie in den frühen 1980ern.
Vorweg:
Zwei alte Buch-Klassiker über die Atom-Bombe, die nicht auf meine Liste kommen.
In meiner nachfolgenden Sammlung sehr lesenswerter Bücher zu dem Thema habe ich nur “neuere Erscheinungen” berücksichtigt. Zwei Bücher seien nochmal lobend erwähnt, auch wenn sie schon etwas älter sind. DER Klassiker in Sachen Atomwaffen ist sicherlich John Herseys “Hiroshima”, dessen Entstehungskontext besonders wichtig ist. Hersey fungierte damals als Reporter für den New Yorker und reiste nach Hiroshima nach der Bombe. Er besuchte 1945/46 die Trümmer der Stadt und sprach mit den Überlebenden. Seine Geschichte im New Yorker veränderte die Perzeption der Amerikaner:innen in diesem Bereich komplett. Aus einer magischen Wunderwaffe wurde der angsterfüllte atomare Alptraum, der die Bombe ist.
Ein weiteres Buch, das schon etwas älter ist und das ich nur noch als Ausgabe aus den 1980ern habe, ist Anton Andreas Guhas absolut schreckliches Buch “Ende”. Guha war damals Redakteur bei der eher linken Frankfurter Rundschau. Er war sehr getrieben von der Anti-Pershing Bewegung der 1980er. Sein als Mockumentary über Wochen beschriebener Atomkrieg findet folgerichtig auch in einer Version der 1980er statt, in der es Gorbatschow nie gegeben hat. Irritierenderweise schreibt er mit Blickwinkel eines Mannes, der in dem Wiesbandener Vorort lebt, aus dem ich stamme.
Buch 1:
Nuclear War. A Scenario.
Von Annie Jacobsen.
Ich habe schon viele Bücher über Atomwaffen und Atomkriegsszenarien gelesen, aber selten hat mich eines so gefesselt wie dieses. Annie Jacobson ist eine Enthüllungsjournalistin, Autorin und Finalistin des Pulitzer-Preises 2016, ihr neues Buch kam vor wenigen Wochen heraus.
Dafür unternimmt sie einen Flug durch die Geschichte der Atombombe und wagt ein Szenario aus dem Jahr 2024, das sekündlich einen zunächst einzelnen Atomangriff aus Nordkorea auf die USA protokolliert, der in insgesamt 72 Minuten das Ende der Menschheit bedeutet. Und genau aus dieser Zeitfrage schöpft das Buch eine enorme Energie. Es geht hier nicht um einen langen Krieg, sondern um eine Kette an Fehlern und Fehleinschätzungen, die in kürzester die Apokalypse bedeutet.
Das Szenario ist hypothetisch und soll nicht dazu dienen, einen Konflikt wie den Ukraine-Krieg zu erklären. Es konzentriert sich auf das Szenario eines Atomkriegs, der hauptsächlich mit strategischen Atomwaffen geführt wird. Jacobsen schreibt aus amerikanischer Sicht und will scheinbar, wie seinerzeit die TV Show "The Day After", dem amerikanischen Publikum seine Verwundbarkeit vor Augen führen.
Das Buch ist aus vielerlei Hinsicht sehr lesenswert. Erstens, weil die investigative Journalistin Jacobsen wirklich mit Menschen und zu Themen gesprochen hat, an die man sonst in diesem Feld nicht herankommt. So lernen wir hier über Befehlsketten, Detauls der sog. SIOP (Ziel)-Planung und Prozessen, die zusammengenommen ein gutes Bild davon abgeben, wie fragil diese Kette ist. Zugegeben: Besser schlafen kann man nicht, wenn man Jacobsens 72 Minuten folgt. Vor allem ich konnte nicht gut schlafen, weil das Buch an einem 30. März 2024 spielt und ich es am 30. März 2024 in die Hand nahm (und abends des selben Tages wieder weglegte).
Buch 2:
Command & Control.
Von Eric Schlosser.
Mitten im Kalten Krieg, am 18. September 1980, fällt einem Mechaniker in einem Atomraketen-Silo in Damascus, Arkansas, ein Schraubenschlüssel in die Tiefe. Der Schraubenschlüssel prallt an den Wänden des Silos ab und durchschlägt die Metallwand einer Titan II Atomrakete, die mit ihrem 9-Megatonnen Atomsprengkopf eigentlich auf ein Ziel in der damaligen Sowjetunion gerichtet ist. In den darauffolgenden 48 Stunden entwickelt sich aufgrund von Bränden und ausströmendem Gas eine Situation, die bei den US-Streitkräften “Broken Arrow” genannt wird - ein Unfall, der die Gefahr einer Atomexplosion mit sich trägt.
Eric Schlossers Buch Command & Control ist ähnlich akribisch recherchiert, wie das von Annie Jacobsen. Es beleuchtet aber vor allem eine Facette der atomaren Rüstung der USA (wir blicken komischerweise fast immer nur auf die der USA): Unfälle und das Wettrennen von Militärs, die komplexe und gefährliche Infrastruktur hinter der Bombe unter Kontrolle zu bringen. Denn fast so gefährlich wie Atomwaffen selbst war und ist die Welt an Codes, Freigaben, Zündern und “Nuclear Footballs”, die über ihren Einsatz entscheiden. Schlossers Buch umfasst weit mehr als das, was in dem Film gezeigt wird (und ist deutlich lesenswerter), aber den Doku-Film Command & Control kann man sich auf arte anschauen.
Buch 3:
Countdown 1945.
Von Chris Wallace.
Chris Wallace ist ein bekannter US Moderator. Unter anderem hat er Präsidentschaftsduelle moderiert und dabei den Ruf erworben, sogar Donald Trump in den Griff bekommen zu haben. Keine Ahnung, wie ein so viel beschäftigter Mann noch ein so gutes, historisches Buch schreiben konnte. Aber in “Countdown 1945” beschreibt er eine Facette der US-Atomangriffe auf Hiroshima und Nagasaki, die meist ausgeblendet bleiben: den Druck und die Intransparenz der 116 Tage der Truman Regierung zwischen Inauguration und Hiroshima.
Was war passiert? Das US Manhattan Project war seit 1942 mit vielen hochkarätigen Leuten dabei, eine möglicherweise kriegsentscheidende Waffe zu realisieren. Franklin Delano Roosevelt war seit 1933 Präsident und hatte den gesamten Zweiten Weltkrieg geführt, darunter auch das streng geheime Atomprogramm. Als dieser plötzlich am 12. April 1945 starb, trat sein Stellvertreter Truman an seine Position. Truman wusste nichts vom Manhattan Project und der Bombe. Aber Truman wusste, dass er - aus vielen politischen Gründen - den Krieg gegen Japan bald beenden musste und die Zeit ihm unter der Fingern davon ran. Auch drohte nach dem gewonnenen Krieg gegen Deutschland gleich zwei weitere Katastrophen: die Perspektive einer blutigen Invasion in Japan und eine wiedererstarkte Sowjetunion.
Man könnte sagen, dass “Countdown 1945” so etwas wie das Entscheidungsgegenstück zu John Herseys Klassiker “Hiroshima” ist, in dem es um das Grauen des Einsatzes ging. “Countdown 1945” macht verständlich, wie wenig das Team um Truman über die Waffe selbst wusste und wie sehr es Spielball von Meinungen und Strömungen im US-Militär war. Gleichzeitig wird auch transparent, was die Alternative aus US-Sicht gewesen wäre: Potenziell Millionen weiterer toter GIs, die die Truman Administration hätte verantworten müssen.
Buch 4:
For Alert Force…Klaxon, Klaxon, Klaxon.
Von Jim Clonts.
Kein Sachbuch sondern eine Art Alternate History Mockumentary aus dem späten Kalten Krieg. Gorbatschow wurde weggeputscht und von einer Horde böser Militärs in der UdSSR ersetzt, die nichts Gutes im Schilde führen. Grundsätzlich ist der Kontext relativ egal, weil er nur den Rahmen eines nuklearen Konflikts beschreibt, der fast nur an Bord eines strategischen B-52 Bombers stattfindet. Dem strategischen US-Bomber, der seit den 1950ern in den USA das Rückgrat der luftgestützten atomaren Abschreckung bildet. Der Grund für dieses Szenario ist simpel: Clonts ist selbst B-52 geflogen und das Buch durchaus eher für Menschen geeignet, die sich auch für technische Aspekte und Prozesse interessieren.
Hier ist eine zentrale Stärke von Clonts Buch. Denn viele Mockumentaries und Alternative History Bücher aus diesem Bereich kranken an technischen Details, die oft falsch oder verzerrt wiedergegeben werden. Da es in Clonts selbstverlegtem Buch vor allem um eine Crew in einem Bomber auf dem Weg zum Ende der Welt geht, fühlt man sich hier schnell wie an Bord mit Major Kong in “Dr. Seltsam, oder wie ich die Bombe lieben lernte”. Und wie in diesem Film schafft genau dieses seltsame Setting eine besonders bedrückende Atmosphäre, wenn alle der Männer wissen, dass es kein zu Hause geben wird, zu dem sie zurückkehren können.
Buch 5:
The Armageddon Letters: Kennedy, Khrushchev, Castro in the Cuban Missile Crisis.
Von James G. Blight und Janet M. Lang.
Zum Abschluss noch ein gar nicht so sehr bekanntes Buch, in dem es weniger um einen Atomkrieg geht sondern um die Vermeidung ebendessen in der Kuba Krise. “The Armageddon Letters” beleuchten die Psychologie von drei Männern, die wissen, dass sie kurz davor sind, den Dritten Weltkrieg zu beginnen und sich fragen, wie sie die Situation für sich managen. Als akademische Transmedia-Dokumentation angelegt, dringen die “Armageddon Letters” in die Psychologie und die Biografie der Hauptdarsteller Kennedy, Chruschtschow und Castro ein. Was treibt sie? Woran glauben sie? Woher stammen sie? Was wissen sie und was wissen sie nicht?
All dies macht die “Armageddon Letters” im Kontext atomarer Entscheidungsfindung zu einem sehr besonderen Buch. Denn eben weil es sich hier fundamental um die Psychologie der Entscheidungsfindung dreht, lernen Leser:innen schnell, wie komplex diese eben ist. Im Fall der Kuba Krise drehte es sich eben nicht nur um zwei Blöcke, die gegeneinander antraten. Vielmehr ging es auch um JFK und Chruschtschow, die sich - mit schwindendem Entscheidungsspielraum und Druck ihres Umfelds - auch gegen ihren eigenen Stab stellen mussten, um Kommunikationswege zueinander offen zu halten und final die Welt zu retten. Ironischerweise entstand durch den atomaren Showdown zwischen JFK und Chruschtschow 1962 eine Special Relationship der beiden, die sich vor allem nach Kennedys Ermordung zeigen sollten.
Abschließende Worte
Die Wasserstoffbombe und die Perspektive eines Atomkriegs hat mich seit Kindesbeinen in ihrer perversen Morbidität fasziniert. Aufgewachsen in den frühen 1980ern in Südhessen, war das Thema bei uns omnipräsent. Von Pershing-Demos bis hin zu Reforger-Übungen, von ABC-Waffen-Nein-Danke Schildern am Ortseingang bis hin zu “The Day After” und “Threads” im Fernsehen, kam ich nie von der Idee los, dass alles sehr schnell enden könnte. Folgerichtig las und sah ich erst fast alles, was man zu dem Thema konsumieren konnte. Danach studierte ich Politik mit Blick auf Internationale Beziehungen und schrieb Abschlussarbeit und ein nachfolgendes Buch über “Positive Anreizsteuerung im Atomkonflikt mit Nordkorea”. Überraschenderweise wurde das Buch kein Bestseller.
Fast Forward 40 Jahre und wir leben immer noch. Das sind die good news.
Die schlechten Neuigkeiten: Es ist mit Blick auf die atomare Rüstung nicht garantiert, dass das so bleibt. Der Blick auf Atomwaffen und die Folgen für unsere Welt ist immer auch zeitlichen Trends unterworfen. Wer 1983 über Atomwaffen sprach, schrieb und nachdachte, war am Puls der Zeit. Wer es 2013 tat, starrte in desinteressierte Augen. Und das obwohl sich faktisch nie daran etwas geändert hat, dass rein theoretisch alles, was wir kennen, in 30 Minuten enden kann.
Russlands atomare Drohungen haben hier leider wieder Bewusstsein geschaffen. Und sie haben auch gezeigt, wie überfordert speziell die deutsche Presse und Medienlandschaft mit dem hochkomplexen und dynamischen Feld “Atomwaffen” ist. Über die morbide Mischung aus journalistischer Unwissenheit, Sensationsgeilheit und Atombombe infolge von Putins Feldzug habe ich zum Beispiel bei Übermedien etwas publiziert.
Warum sollte man sich also mit Büchern zu dem Thema das Leben noch negativer machen? Hier gibt es keine definitive Antwort. Meine persönliche Antwort ist seit 40 Jahren gleich. Ich glaube, dass die Atombombe die größte Bedrohung für die menschlichte Art ist und dass wir einen Geist erschaffen haben, den wir nie wieder in die Flasche zurückbekommen. Die Idee, dass dieser Geist kontrollierbar ist, stand am Anfang von allen. Die Realität hat gezeigt, dass wir bisher sehr viel mehr Glück als Verstand hatten. Auf dass dies so bleibt, braucht es eine öffentliche Meinung zu diesem wichtigen Thema. Und es braucht ein öffentliches Konzept, wie Abschreckung, Atomwaffen, Proliferation, Sicherheits- und Geopolitik und atomare Infrastruktur zusammen hängen. Dazu müssen wir uns wieder in die Theorie der Bombe eingraben. Nicht alle, aber die, die die Welt in diesem Bereich ähnlich wie ich sehen.