Guten Morgen und frohe Ostern,
409 Tage und kein Ende des irrsinnigen Angriffskriegs in der Ukraine in Sicht. Während in Deutschland weiter Offene Briefe an den Kanzler geschrieben werden, die praktisch nie Putin zu Zugeständnissen sondern offen oder implizit immer nur die Ukraine zum Aufgeben drängen, wirkt die Diplomatie so gestutzt wie sie wohl tatsächlich auch ist. Russlands Aussenminister Lawrow schloss gestern jegliche Verhandlungen aus, die nicht mal mindestens eine “neue Weltordnung” als Vorbedingung hätten. Von der Leyen und Macron versuchen dennoch aktuell das Spiel über Bande in China. Aus Kiew schien es zudem mal kurz, als ob man gestern kompromissbereit in Sachen Krim wäre - dann wurde wieder zurückgerudert. Ist man nicht.
Ich fürchte, ich werde diesen Newsletter noch lange schreiben.
Die militärische Lage in der Ukraine
Militärisch befindet sich die Ukraine mal wieder in einer dieser Situationen, in der eine der viel zitierten “nächsten Phasen” eintritt. Gerne garniert mit dem Zusatz, dass es diesmal die wohl entscheidende Phase sein könnte. Entscheidende Phasen kamen und gingen bereits einige.
Was macht eine solche neue Phase aus?
Wahrscheinlich, dass die Ukraine nach einem langen Winter versucht, das Heft wieder an sich zu reißen. In der Ukraine spielt Witterung eine entscheidende Rolle und natürlich die Verfügbarkeit von Waffen und Soldat:innen. Um Offensiven durchführen zu können, muss man witterungsseitig beweglich sein können (keine Kälte, kein Matsch), Nachschub sichergestellt haben und v.a. einen Gegner vor sich haben, der eine Lücke bietet. Und das ist da aktuell gar nicht so einfach:
Im aktuellen offenen Brief des Brand-Sohns Peter liest man - wie vorher auch bei Schwarzer & Co. - die Analyse vom “Stellungskrieg” in der Ukraine, der ohnehin nichts bringe (“Aus dem Krieg ist ein blutiger Stellungskrieg geworden, bei dem es nur Verlierer gibt”). Das stimmt sogar. Allerdings tun Offene-Briefe-Schreiber:innen auch immer ihr Bestes, so zu tun als ob es keine Alternative zum Stellungskriegen geben würde. Doch, die gibt es. Für die Ukraine muss als “nächste Phase” der Übergang in die Bewegung stattfinden - sie kann nur in der Bewegung gewinnen. In statischen Artillerieduellen gegen Schützengräben wird Russland am Ende immer die Oberhand gewinnen.
Deshalb ist diese neue “Phase” tatsächlich wichtig. Die Analyse “Stellungskrieg ist schlecht” ist treffend. Offene Briefe Schreiber:innen verschweigen allerdings sehr gerne, dass man der Ukraine mehr Waffen, mehr Daten und mehr Unterstüzung zukommen lassen muss, um den Stellungskrieg zu verlassen. Sie gewinnt, wenn sie sich bewegt. Sie verliert, wenn sich Soldaten in statischen Schützengräben von der numerisch überlegenen russichen Armee und ihren Söldnern zusammenschießen lassen muss.
Donbass
Nach wie vor bleibt die Ostukraine der Hotspot des Tötens und in den letzten Tagen haben sich die Dinge hier wohl wieder etwas zu Ungunsten der Ukraine entwickelt. Wer einen, wie immer ganz hervorragenden Twitter-Thread zur Lage der Fronten in der Ukraine lesen will, Jomini of the West hat gestern endlich mal wieder hier einen verfasst.
Zwei Vorstoßrichtungen Richtung Westen finden sich im Donbas nach wie vor:
Luhansk und der russische Versuch rund um Kreminna den Rest des Oblasts Luhansk “zu befreien” um dann im Westen Richtung Kharkiv Teile des Territoriums zurückzuholen, die im Herbst verloren gingen
Donetsk bildet mit den Schlachten von Bakhmut und weiter südlich rund um Awdijiwka und Marinka den Fokus des Krieges aktuell
Zwar ist der russische Fortschritt in den letzten Wochen nach wie vor kleinteilig: War Mapper rechnet zusammen, dass Russland derzeit 16,68% des ukrainischen Territoriums besetzt und dass seit Februar 0,01% hinzu gewonnen wurde (seit ISW hat ein paar Karten dazu hier, War Mapper hier. Aber es ist ein Fortschritt da.
Der Fleischwolf von Bakhmut ist für die Ukraine aktuell das größte Problem. Scheinbar wurde russischer Nachschub effektiver als bisher eingesetzt und Artillerie ebenfalls. Und so schließt sich eben zunehmend der Kessel von Bakhmut. Russland steht mittlerweile im Stadtzentrum und im Norden und Süden schließen sich zunehmend die Flanken der ukrainischen Armee.
Sogar das sonst deutlich positive britische Verteidigungsministerium konstatierte gestern, dass Russland jetzt im Stadtzentrum angekommen sei. Russland habe die Westseite des Bakhmut Flusses besetzt und könne effektiver kämpfen. Aktuelle Karten aus der OSINT Community lassen ahnen, dass es in dieser wohl grausamsten Schlacht des 21. Jahrhunderts bisher zu großen Problemen für die Ukraine kommt. Dass WAGNER-Chef Prigozhin Mittwoch seine Flagge auf den Resten von Bakhmuts Stadtverwaltung hisste, stützt diese These nur.
Sollte Bakhmut fallen, öffnet das für Russland ein Stück den Weg nach Westen. Schwerer wiegt jedoch der mögliche Verlust der komplett runtergerockten ukrainischen Armee, die den Trümmerhaufen Bakhmut noch verteidigt. Seit Wochen fordern westliche Staaten die Aufgabe von Bakhmut um die dringend benötigten ukrainischen Truppen zu retten. Bisher verweigert sich Selensky diesen Vorstößen. Begriffe wie “Festung Bakhmut” erinnern an sinnlose statische Verteidigungsbemühungen aus der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Gestern kam zumindest mal das Signal, dass er den Rückzug anordern würde, wenn Bakhmut eingeschlossen würde. Ob dann überhaupt noch ein Rückzug möglich wäre, bleibt abzuwarten. Bakhmuts Verlust wäre vor allem ein Gesichtsverlust. Die Sorge, dass es die erodiernde Unterstützung für Kiew noch weiter abschwächt, ist berechtigt. Daher doppelt der Druck auf der anstehenden Frühjahrsoffensive. Selensky braucht Erfolge.
Die ukrainische Frühjahrsoffensive
Und da sind wir auch schon. Beim Thema “Ukrainische Frühjahrsoffensive”. Die Ukraine steht klar unter Druck, sich Territorium zurückzuholen und dem Westen zu beweisen, dass das angelegte Geld gut investiert war. Keine einfache Situation. Und jeder Offene Brief in Deutschland erhöht den Druck noch, weil Selensky natürlich klar ist, dass der Widerstand gegen die Unterstützung der Ukraine ernst zu nehmen ist. Die öffentliche Meinung im Westen mag Gewinner, egal, was der Preis ist, den sie im Falle eines Verlustes selbst zahlen muss.
Weil sich heute das Gros der hier von mir empfohlenen Artikel mit den Aussichten einer ukrainischen Offensive in den nächsten Wochen beschäftigt, möchte ich da gar nicht allzu sehr in die Tiefe gehen. Nur eins: Der Info-War tobt schon in vollen Zügen. Seit Wochen wird Russland in jedem zweiten Artikel der Winkel des wahrscheinlichen Vorstoßes vorgekaut. Und wenn der Westen Russland nicht genau sagt, wo die ukrainische Offensive angeblich stattfinden wird, malt sich WAGNER Chef Prigozhin einfach selbst Karten und post mit ihnen vor der Kamera.
Kurz: Die Trommeln des Krieges trommeln laut und Desinformation gehört auf beiden Seiten zum Handwerk. Gestern berichtete die New York Times über angeblich geheimes US-Pläne und Geheimdienst-Informationen zur ukrainischen Offensive, die als Screenshots auf Telegram geteilt wurden. Diese Pläne zeichneten ein pessimistisches Lagebild einer anstehenden Offensive. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei jedoch auch um Desinformation. Die Frage ist nur, von wem.
Finnland
Und dann ist diese Woche noch etwas ganz epochales passiert: Finnland ist der NATO offiziell beigetreten.
Finnlands Beitritt in dieser Phase ist nicht nur historisch und aus militärischen Gründen ein echter Zugewinn für die Gemeinschaft. Es erhöht auch die kollektive Sicherheit aus verschiedenen anderen Gründen. Russlands angeblich so bedrohte Grenze zur NATO ist nun doppelt so lang wie vorher. Und das in vitalen geostrategischen Bereichen: Finnland kann mit Estland im hoffentlich nie eintretenden Kriegsfall den Seezugriff zur Newabucht nach St. Petersburg schließen und es könnte im Fall eines russischen Angriffs aufs Baltikum ebendieses viel effektiver unterstützen als bisher. Ein wirklich guter Film (mit schlimmem Titel) zur militärischen Rolle Finnlands im Falle eines Krieges NATO gegen Russland findet sich hier:
Drei Links
1. 1945: Will Ukraine’s Spring Offensive Bring Victory or Defeat?
Ein eher besorgtes Stück über die anstehende ukrainische Frühjahrsoffensive. Zentrale These: Für eine Offensive braucht es erfahrene Soldat:innen und der Ukraine gehen langsam genau diese Menschen aus. Die Offensive, die in den nächsten Wochen starten wird, muss sitzen. Schafft sie es nicht, die russischen Truppen entscheidend zu schwächen, könnte die Ukraine danach dauerhaft zu schwach sein, um diesen Krieg für sich zu entscheiden.
Der Artikel von Autor Daniel L.Lewis ist nicht dediziert pessimistisch, aber er erklärt an den Gegebenheiten des Schlachtfelds und der Situation aktuell, wie die Ausgangslage im Frühjahr 2023 ist. Richtig gut ist sie nicht. Möge uns die Ukraine einmal mehr überraschen.
2. Futura Doctrina: The Coming Fight Will Be Different
Auf das gleiche Thema setzt der australische General Mick Ryan in seinem Substack
auf. Mit Blick auf die kommende ukrainische Offensive geht es ihm vor allem auf die logistische Vorbereitung der ukrainischen Truppen. Anders als 2022 im Sommer - so Ryan - hätten die Russen nämlich gelernt und in Defensive investiert. Heißt: Es ist unwahrscheinlich, dass sie sich nochmal so kalt erwischen lassen wie vor Kharkiv im Spätsommer 2022, wo Arroganz und Inkompetenz 100km Geländegewinn ermöglichten. Bunker und Gräben durchziehen mittlerweile die russische Seite - also Defensivstrukturen, die nicht einfach zu überwinden sind. Die meisten mit Sprengfallen und Minen versehen, vor allem auf den wenigen Hauptverkehrsrouten, die jede Offensivstreitkraft nehmen muss.Aber auch die Ukraine hat seine Offensivkräfte genau dafür optimiert. Zwischen westlichen Panzern wurde sehr viel Brückenbaumaterial, Minensuch- und dergleichen mehr “Engineering”-Material in die Truppen integriert. Der Artikel klamüsert hier nochmal gut Chancen und Risiken aus militärischer Perspektive auseinander.
3. Tagesspiegel: Oberst Reisner im Interview
Manchmal bin ich fast schon schockiert, dass es ausgerechnet Militärs sind, die sich am klarsten für die Unterstützung der demokratischen Welt für die Ukraine aussprechen. Klar: Kriegstreiber, nennt das die Gegenseite. Aber das Gegenteil ist der Fall. Viele Offiziere sorgen sich aufrichtig um unsere freie Gesellschaft und wissen, was die Konsequenz ist, wenn die Ukraine diesen Krieg verliert. Gut, dass diese Leute mittlerweile Soziale Medien gefunden haben.
In Deutschland ist das sicher am ehesten Brigadegeneral Dr. Freuding, der die Ukraineunterstützung militärisch koordiniert und oft in Medien ist. In Österreicht ist es Oberst Markus Reisner vom Bundesheer, der einen sensationell guten und kenntnisreichen Video-Podcast dort führt (leider wieder seltener in letzter Zeit). Reisner besticht durch seine ruhige und sehr präzise Art und Weise und dieses Interview im Tagesspiegel ist, wie immer, lesenswert.
Drei Tweets
1. Partizan Oleg: Wie viele Panzer hat Russland noch?
Zugegeben: Nichts Genaues weiß man nicht. Und in einem Krieg mit so viel Info-Bullshit ist fast jede Zahl Spekulation. Aber wenn es einen Gewinner in diesem unseligen Krieg gibt, dann die OSINT Community. Eine Vielzahl freiwilliger Expert:innen aus allen Bereichen wertet Karten, Zahlen und Fotos aus, errechnet Schiffsrouten, die Abnutzung von Gummireifen und whatnot - nur basierend auf den vielen Bildern in Sozialen Medien. Nicht alle dieser Zahlen sind perfekt, manche sind falsch und einige sind sogar Teil des Infokrieges. Aber eine(r), die/der sich in den letzten Monaten mit enorm guten Zahlen bemerkbar gemacht hat, ist der Twitteraccount Partizan Oleg. Dieser hat gerade mal ebenso hochgerechnet, wie viele Panzer Russland noch ungefähr haben müsste und wann sie ihnen ausgehen. Antwort: Bei gleichbleibender Intensität recht es bis Ende 2024. Good news: Gegen die NATO reicht es nicht mehr.
2. Yuliya Seidel: Habecks Eingeständnis.
"Es hat zu lange gedauert und es war zu spät... Ich schäme mich zutiefst.” Robert Habecks Worte auf Staatsbesuch in der Ukraine diese Woche waren eigentlich nicht für die Kamera bestimmt. Er hat sie später als persönliches Kommentar in einer vermeintlich dialogischen Situation angesehen und deshalb so ausgesprochen. Das Mikro lief trotzdem mit und durchgestochen wurde der Clip dennoch. Habecks Worte sind aufrichtig und sagen viel über ihn als Politiker aus. Mir ist klar, dass es viele nicht so sehen, aber ich bin froh, dass er da ist, wo er ist.
3. Temur Umarow: As it was
Und da sag noch einer, TikTok würde Geschichte nicht schön prägant erklären können. Nachfolgend eine schöne TikTok Analyse der chinesisch-russischen Beziehungen aus historischer und aktueller Perspektive. Kurzfassung: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.
Hinterlasst mir gerne ein Kommentar oder Feedback. Ansonsten werde ich in zwei Wochen die nächste Ausgabe von Neue Bellona versenden. Bis dahin sehr Frohe Ostern. Und gerne teilen.