Ukraine Bookmarks 1101
Neue Bellonas Ukraine und Sicherheitspolitik-Leseliste am 1101. Tag des Ukraine Kriegs (1. März 2025)
⚔️🇺🇦 #UkraineBookmarks ist eine kuratierte und kommentierte Liste von Links zum Ukraine Krieg, die ich aktuell lesenswert finde und teilen möchte. Ukraine Bookmarks ist eine Art bewerteter Mini-Presse-Reader zum schlimmsten und wahrscheinlich folgenreichsten Krieg in Europa seit 1945 mit den subjektiv lesenswertesten Posts dazu.
Guten Morgen!
Ich habe schon ein paar Wochen mit der Herausgabe einer neuen Neue Bellona Ausgabe gezögert. Einmal, weil es persönlich nicht anders ging. Dann, weil ich die ersten Tage Trump/Vance abwarten wollte, weil ich - wie wohl alle - hoffte, dass es vielleicht doch nicht ganz so schlimm kommt wie gedacht. Die Realität ist noch wesentlich schlimmer als alles, was ich befürchtet habe.
Auf meinem Lesestapel liegen noch mindestens sechs sicherheitspolitische Bücher aus dem letzten Jahr, die ich lesen wollte, und nun alle ins Altpapier geben kann. Sie sind nichts mehr wert. In Jahrzehnten aufgebaute Sicherheitsarchitekturen platzen aktuell im Vorabendprogramm. Und ja, ich bin mir sicher, dass in den USA gerade eine technoide Variante des Faschismus entsteht.
Kurz: Das ist die von Putin gewünschte und offensichtlich auch erreichte Desintegration des Westens. Glückwunsch dazu nach Moskau. Das ist das, was Stalin schon 1948 erreichen wollte und nie geschafft hat. Kein Wunder, dass Herr Putin sich für einen genialen Spieler hält. Er hat eine vielfach überlegene Allianz mit der Trump-Adminstration als trojanischem Pferd in die Knie gezwungen.
Dass die transatlantische NATO spätestens seit Vance’ Auftritt in München zu Ende ist, sollten wir nun auch mit einer neuen Bundesregierung als Realität betrachten. Artikel V ist mit dieser US-Administration tot. Damit ist die NATO tot. Wir brauchen eine neue eigene, europäische Struktur ohne die USA. Deutschland wird sich auch über Atomwaffen im europäischen Konzert Gedanken machen müssen, inklusive einer möglichen neuen deutschen Teilhabe an den französischen Atomwaffen. Und damit ist auch eins: die globale Nichtverbreitungsnorm von Atomwaffen ist ebenfalls Geschichte. Jeder, der kann, wird ab jetzt versuchen, Atomwaffen zu bauen - inklusive Südkorea und Japan.
Letzter Tiefpunkt dieses Dramas: Trump/Vance besiegeln die Zusammenarbeit mit Volodmyr Selensky vor laufenden Kamera in einem zutiefst ekelerregenden Team-Bully-Move, der sich anfühlte wie vom Grundschulhof. Amerika ist als Partner vorbei. Wer glaubt, dass der nicht beneidenswerte Präsident Selenskyy hätte diplomatischer sein müssen, dem möchte ich einen aktuellen Artikel aus The Atlantic empfehlen, der klar davon ausgeht, dass Selenskyy eine PR-Falle im Oval Office gelegt wurde:
Auch die Anwesenheit von Vance im Weißen Haus deutet darauf hin, dass das Treffen ein abgekartetes Spiel war. Vance ist in der Regel ein unsichtbarer Hinterbänkler in dieser Regierung, der außer dem gelegentlichen Anpöbeln von Trumps Kritikern kaum Aufgaben hat. (Die eigentliche Aufgabe, Trumps Politik voranzutreiben, ist jetzt offenbar Elon Musks Job.) Diesmal wurde er jedoch nicht eingesetzt, um andere Amerikaner zu trollen, sondern einen ausländischen Führer.
Gleich wie: die Situation rund um die Ukraine und um unsere eigene Sicherheit in Europa beschreibt wohl am besten der Ausdruck der ukrainischen Botschafterin in Moskau, Oksana Markarova, während des Wortgefechts gestern.
Ich frage mich ernsthaft manchmal, wie Volodymyr Selenskyy das eigentlich alles aushält. Im Kreml dürften die Korken knallen.
Neue Bellona führe ich als Blog/Newsletter seit 10 Jahren. Über die Ukraine schreibe ich seit über drei Jahren. Aber was hier gerade global passiert, stellt alles auf den Kopf, was in Sachen Sicherheitspolitik bisher denkbar war. Wir sind in den 1930ern. Nut mit - wie Masala unten richtig sagt - neun atomar bewaffneten Staaten.
Was für Zeiten.
Gerald
Ukraine und Sicherheitspolitik
Subjektiv lesenswerte Links der letzten Tage.
„Der Durchbruch zum großen Krieg ist unvermeidlich“
web.de, Februar 2025
Der Militärexperte Gustav Gressel warnt: Trumps Ukraine-Politik wird nicht zum Frieden führen, sondern zum großen Krieg in Europa.
Die USA fordern von Kiew den Verzicht auf einen NATO-Beitritt und ziehen sich weitgehend aus der Unterstützung zurück. Ohne amerikanische Waffen und Sicherheitsgarantien wird jeder Waffenstillstand nur ein Vorwand für Putin sein, um sich für eine neue Offensive zu rüsten. Trump sei Putins Manipulation erlegen – und Europa stehe nun ohne Abschreckung da.
Gressel fordert deshalb ein radikales Umdenken: Europa müsse eigene Machtmittel aufbauen, um Russland entgegenzutreten – selbst der Ausstieg aus dem Atomwaffensperrvertrag sollte als Druckmittel auf den Tisch kommen.
„Postmoderner Weltkrieg“
Maischberger, 28. Februar 2025
Sicherheitsexperte Carlo Masala erklärt, warum wir uns längst in einem globalen Konflikt befinden – auch wenn niemand ihn offiziell so nennt. Hybrid, asymmetrisch und über zahlreiche Schauplätze verteilt: Der “postmoderne Weltkrieg” der Gegenwart sieht anders aus als klassische Weltkriege, ist aber nicht weniger gefährlich. Wie immer brillant und messerscharf analysiert.
Ex-MI6-Chef: „Die Welt gehört wieder den starken Männern“
BBC Newsnight, Februar 2025
Und noch ein schlauer Mensch, der ins selbe Horn stößt: Auch Sir Alex Younger, ehemaliger MI6-Chef, sieht eine düstere Zukunft für die internationale Diplomatie: „Internationale Beziehungen werden nicht mehr von Regeln bestimmt, sondern von starken Männern.“
Er warnt, dass die Welt in eine neue Ära der Machtpolitik eintritt – mit Donald Trump als zentraler Figur. Die USA hätten erheblichen Einfluss auf den Ukraine-Krieg. Eine gerechte Lösung für Kyjiw hält Younger für unwahrscheinlich. Vielmehr könnte sich Washington unter Trump von alten Prinzipien verabschieden und stattdessen auf Deals mit autoritären Führern wie Putin setzen. Seit gestern noch mehr als heute.
Was Europa militärisch fehlt
CEPA, 12. Februar 2025
Und wenn wir uns als Europa einfach militärisch selbständig machen? Erstmals seit Jahrzehnten muss sich die europäische NATO ernsthaft fragen, wie sie ohne die militärische Rückendeckung der USA klarkommt. „Die USA konzentrieren sich nicht mehr primär auf die Sicherheit Europas“, erklärte Verteidigungsminister Pete Hegseth am 12. Februar in Brüssel.
Europa ist nicht schutzlos. Doch ohne US-Unterstützung fehlen entscheidende strategische Fähigkeiten: Luftverteidigung, Aufklärung, Feuerkraft und die Kommandostrukturen, um einen längeren Krieg eigenständig zu führen. Die gute Nachricht, so Ex-NATO-General Skip Davis: Russland ist durch den Ukraine-Krieg geschwächt und nicht bereit für eine Offensive Richtung Westen. Die schlechte Nachricht: Europa hat nur wenig Zeit, seine Verteidigungsfähigkeit auf eigene Beine zu stellen.
Was es wohl kosten wird, die Ukraine nicht zu unterstützen
IfW Kiel, November 2024
Jetzt, wo die Desintegration der US-Ukraine-Unterstützung offensichtlich wird, wird auch klar, wie fatal die zaghafte militärische Hilfe war und was die Folgen für uns nun sein werden. Surprise - Kriege gehen nicht einfach weg. Denn jetzt wird es richtig teuer – und gefährlich. Bereits im November 2024 legte das IfW Kiel eine lesenswerte Studie vor, die die bisherigen Militärhilfen von 10,6 Milliarden Euro ins Verhältnis zu den potenziellen Kosten eines ukrainischen Zusammenbruchs setzte. Ihr Fazit: Ein russischer Sieg könnte Deutschland jedes Jahr das 10- bis 20-Fache kosten. Aber gut, wer konnte das schon ahnen …
Europas „Abschreckung“ gegen Russland? Ein Witz.
The Washington Post, 17. Februar 2025
Europa will als Ersatz für die USA eigene Truppen in die Ukraine schicken – aber die Zahlen sind bisher ernüchternd. Laut Washington Post könnte Europa zwischen 15.000 und 30.000 Soldaten bereitstellen. Diese Truppe wäre nicht einmal an der Front stationiert, sondern irgendwo dahinter. Als „Abschreckung“.
Blöd nur, dass diese kampfunerfahrenen Soldaten nur 5–10 % der aktuellen ukrainischen Truppenstärke ausmachen – und auch nicht mehr Munition haben als die unterversorgte ukrainische Armee. Die Bundeswehr selbst könnte sich gerade mal vier Tage lang verteidigen, bevor die Depots leer sind.
Man hätte die Ukraine auch einfach richtig unterstützen können. Doch stattdessen glaubt Europa, mit symbolischen Gesten Putin zu beeindrucken. Das Risiko eines direkten Kriegs mit Russland? So hoch wie nie. Vor allem, wenn Trump Putin gewähren lässt.
Der fünfte neue Reiter der Apokalypse
Demokratie basiert auf Vertrauen – Diktatur auf Terror
YouTube, 27. Oktober 2024
Zum Abschluss nochmal ein kurzer Beitrag von Yuval Noah Harari. Der bringt die beginnende US-Diktatur in einem kurzen Satz auf den Punkt: Demokratie funktioniert nur, wenn die Menschen dem System und einander vertrauen. Diktaturen hingegen beruhen auf Angst und Zwang. Deshalb ist das erste Ziel jeder kommenden Diktatur die demokratischen Institutioen, die Demokratien zusammenhalten. Ein simples, aber treffendes Argument, das wir aktuell jeden Tag beobachten können.
Das war meine kurze Ukraine-Presseschau für heute. Bald folgt wieder das nächste Ukraine Update mit Neue Bellona. Wer diesen Newsletter weiterempfehlen mag: Sehr gerne.
Слава Україні!,
Kudos, dass du die Ausgabe gemacht hast. Kann nicht einfach gewesen sein. Auch weil so viel schon berichtet wurden. Aber dann erst recht. Wer deinen NL liest, freut sich über die Konstanz. Gibt nämlich nicht mehr so viel was konstant ist.