Ukraine Bookmarks
Neue Bellonas Ukraine Leseliste am 424 Tag des Ukraine Kriegs (23. April 2023)
#3Links3Tweets ist eine kuratierte und kommentierte Liste an Links zum Ukraine Krieg, die ich aktuell lesenswert finde und alle zwei Wochen erscheint. Ukraine Bookmarks ist eine Art bewerteter Mini-Presse-Reader zum schlimmsten und wahrscheinlich folgenreichsten Krieg in Europa seit 1945 mit den subjektiv lesenswertesten Posts dazu. Meinen anderen Newsletter
findet ihr hier.Ukraine-Krieg: Was ich gerade lese.
Es ist Ende April und noch immer stehen den “großen” geostrategischen Schachzügen in der Ukraine tausende, wenn nicht gar Millionen Einzelschicksale gegenüber.
Während sich die Schlacht von Bakhmut seit nunmehr acht Monaten mit horrenden Verlusten auf beiden Seiten kaum bewegt, wartet die Welt auf die Frühjahrsoffensive der Ukraine. Bilder aus Bakhmut geben einen groben Eindruck davon, was von dem Städtchen noch übrig ist und wie grausam es dort zugehen muss.
Bilder aus der OSINT Community zeigen eine instabil stabile Situation in und um Bakhmut, die sich seit Wochen nur unwesentlich verändert - und wenn dann am ehesten mit Vorteilen für die russische Seite. 80% Bakhmuts sind nun russisch besetzt. Es wird um jedes Haus gekämpft, drastische Veränderungen finden aber nicht statt. Zumindest nicht in den letzten Tagen.
Aber die sich scheinbar kaum verändernde Situation in Bakhmut ist mit einem anderen Überthema verbunden: der anstehenden ukrainischen Frühjahrsoffensive und den damit verbundenen Risiken für beide Seiten.
Warten auf die ukrainische Frühjahrsoffensive
Mit baldigem Ende der Rasputiza (“Schlammsaison”), mit weitreichendem Scheitern der russischen Winter-/Frühjahrsoffensive und ankommenden westlichen Waffenlieferungen warten nun alle auf die ukrainische Frühjahrsoffensive. Wenn sie kommt, wird sie eine hochkomplexe und für beide Seiten gefährliche Herausforderung. Die Ukraine hat dabei mit einem russischen Gegner zu tun, der scheinbar aus vorherigen Fehlern gelernt hat, sich nun verschanzt hat und in mehrstufigen Verteidigungslayern in einer Defensivposition wartet. General Mick Ryan, dessen hervorragenden Substack Artikel dazu ich im letzten oder vorletzten Newsletter schon verlinkt habe, schreibt:
Indeed, there is no military endeavour that is more difficult to plan, orchestrate and execute than combined arms obstacle breaching. (…) Mastering them by the Ukrainian army will take training, good leadership, excellent planning, much rehearsal and real time learning and adaptation. They are inevitably bloody undertakings for both sides.
Da Russland schon seit Wochen mit einer ukrainischen Offensive (im Süden) rechnet, ist eine der schwierigsten Herausforderungen dabei das Timing.
It will also require a clever scheme of manoeuvre before and during the offensive to deceive the Russians about the locations and timing of the offensives. And it will demand ongoing efforts by the Ukrainians to conceal force concentrations, artillery, HQ and logistics as they begin their break-in battles (and hopefully exploitation) once the offensives commence. It could also mean we will see lots of smaller mini-offensives than a couple of large ones just to confuse the Russian targeting cycle and to deceive them about Ukraine’s main effort.
Die Nervosität steigt tatsächlich an. Denn unter allen “entscheidenden Phasen” des Krieges bisher könnte diese tatsächlich entscheiden. Der Economist schreibt:
What should Ukraine do with the advantage it currently enjoys? It should try to break, or at least disrupt, the land bridge that connects Crimea to Russia, via Donbas. (…) The risks are high, though. (…) So Ukraine and its Western backers, should prepare for the possibility that the counter-offensive will yield only marginal gains, or worse.
Putin hofft, dass die kommende Offensive ins Leere läuft oder in seinen neu gebauten Verteidigungslinien von Saporischschja stecken bleibt. Das Resultat, so sein Kalkül, wäre, dass der Westen den Glauben an einen ukrainischen Sieg verliert und Unterstützung künftig ausbleibt. Die ukrainische Seite weiß um diese Möglichkeit und dass das tatsächlich passieren könnte. Die ukrainische Frühjahrsoffensive könnte also gerade in Sachen Wichtigkeit, was Timing, Hebelpunkt und Aufklärung betrachtet, kaum wichtiger sein. Wir sehen, was kommt und ich hoffe sehr, dass auf ukrainischer und NATO-Seite gute Entscheidungen getroffen werden. Denn auch NATO Aufklärungsdaten sind gerade entscheidend.
In diesem Kontext möchte ich noch auf eine Analogie verweisen, die sich einem förmlich aufdrängt. D-Day 1944, der als entscheidende Offensive von Westen lange erwartet, vorbereitet und in Sachen Timing kritisch vorbereitet wurde. Es gibt eine hochinteressante arte-Doku, die ich wärmstens empfehle: “3 Tage im Juni 1944” (offiziell gerade nicht in der Mediathek aber man findet es auf Youtube), die die kritische Rolle einer jungen Irin in der abgelegenen irischen Wetterstation Blacksod beleuchtet. Ohne ihre Erkenntnisse hätte eine kritische Wetterinformation nicht genutzt werden können und die Landung in der Normandie mit diesem entscheidenden Timing nicht stattfinden können. Übrigens: General Eisenhower hatte schon ein Alternativ-Script geschrieben, für den Fall dass die Landung in der Normandie scheitert. “In Case of Failure” ist eine handschriftliche Notiz, die einen frösteln lässt. Die Wand zwischen Sieg und Niederlage ist bei komplexen, verbundenen Offensiv-Operationen äußerst dünn. So wird es auch in der Ukraine sein.
Russischer Hybridkrieg gegen Westeuropa
Und dann gibt es eben auch einige Entwicklungen, von denen die meisten unter dem Radar laufen und als Meldung an einem vorbeiziehen: alle davon deuten darauf hin, dass Russland (noch) nicht-militärische Maßnahmen der Einflussnahme auf Westeuropa und die USA ausbaut. Hybrid-Krieg nennt man das.
Da wäre zunächst die Dokumentation “The Shadow War”, die letzte Woche große Aufregung verursacht hat: In ihr legen nordeuropäische Dokumentationsfilmer nahe, dass russische Zivilschiffe - auf denen Mini-Uboote und bewaffnete Männer mit Masken sind - den Meerboden in Nord- und Ostsee absuchen und kartografieren. Ziel: Das Mappen von kritischen Infrastrukturen in Sachen Energieversorgung oder Internetkabeln. Also all dessen, was den Wohlstand und die Informationsversorgung zwischen New York, Oslo und Rom aufrecht erhält.
Dann berichtete die Washington Post über abgehörte Gespräche von russischen Trollfarmen, in denen sich russische Desinformationsspezialisten darüber freuen, dass nur 1% ihrer in westlichen Social Networks verbreiteten Desinformation aufgedeckt würden. Dies geht natürlich ganz blendend zusammen mit Elon Musks libertärer Hands-Off Politik, die Identitätsdiebstahl nun blendend Vorschub leistet. Russische Trollfarmen kaufen blaue Haken auf twitter in Hunderterpacks auf und steigern damit Glaubwürdigkeit und Reichweite. Und dass twitter parallel nun Labels entfernt hat, die auf Content von staatlichen Akteuren hinweisen, passt perfekt dazu. Damit muss sich Russia Today mit seinen Lügenmärchen nicht noch als die Propagandainstitution bezeichnen lassen, die sie ist. Endlich wieder Mist kübelweise ins Netz kippen. Ist ja Free Speech.
Der eigentlich bestürzendste Artikel in diesem Kontext kam noch spät diese Woche rein und bildet gleich den Auftakt meiner Leseempfehlungen diese Woche… 👇
Wer diesen Ukraine-Newsletter wertvoll findet, darf ihn sehr gerne teilen. Ich versuche, ihn ungefähr alle zwei Wochen zu versenden mit einem subjektiven Wrap-Up der Lage.
Drei Links zum Ukraine Krieg
1. “Kremlin Tries To Build Antiwar Coalition in Germany”
Washington Post, 21. April 2023
Zugegeben: Es ist nicht ganz so überraschend. Aber wenn man es dann als Beweis Schwarz auf Weiß hat, ist es doch nochmal was anderes: Der Kreml versucht das Hufeisen aus linksextremen und rechtsextremen zu nutzen, um die Unterstützung für die Ukraine zum Erodieren zu bringen. Deutschland spielt dabei für Russland aus informativer Sicht eine zentrale Rolle. Die meisten Akteure, die aktuell in Talkshows sitzen oder anders geartete Meinungsbildner sind, wurden vom Kreml ebenso gesehen wie die Rolle, die eine AfD in Deutschland zu spielen kann.
2. Wann kommt die ukrainische Gegenoffensive?
Molfar, 14. April 2023
Laut Molfar Ende April.
Warum? Weil das OSINT Team Daten nebeneinander gelegt hat und festgestellt hat, dass die Ukraine vor jeder großen Offensive systematisch damit begann, russische Großgeräte zur elektronischen Kriegsführung zu zerstören. Auf eine dieser Wellen folgte dann die Offensive. Ein solcher Peak sei jetzt: Mit 133 dokumentiert zerstörten elektronischen Kampfgeräten auf russischer Seite würde das Vorgehen der Ukrainer mit denen aus vergangenen Offensiven zusammenpassen. Der Artikel ist besonders deshalb interessant, weil er mal wieder zeigt wie wesentlich die Daten der OSINT Community mittlerweile sind.
3. Next Year in Moscow (Podcast)
The Economist
Es gibt sie: die “anderen” Russ:innen. Als vor einem Jahr der Beschuss der Ukraine begann, standen viele frei denkende Russ:innen vor einer schweren Entscheidung: sich verstecken, Widerstand leisten oder fliehen. Hunderttausende entschieden sich für die Flucht. Denn für sie bedeutete der Krieg, dass Russland selbst seinen Sinn und seine Zukunft verloren hatte.
Der Economist hat eine fantastische achtteilige Podcast-Serie gemacht, in der Arkady Ostrovsky von The Economist durch Europa und den Nahen Osten reist, um all den vielen Russ:innen hinterherzuspüren, die nun aus dem Exil um ihr Land kämpfen. Die Beweggründe sind individuell, der Podcast wird mit jeder Folge besser. Dringende Hörempfehlung.
Drei Tweets
Tweets sind nur verlinkt, nicht eingebettet.
1. Igor Gorushko: Interview mit einem Mörder
Russische Truppen bemühen sich in den letzten Wochen ja wieder besonders, dass man sie nicht mehr als Teil der zivilisierten Welt ansieht. Da war zunächst das “Enthauptungsvideo” eines lebenden ukrainischen Gefangenen (nur Berichterstattung darüber verlinkt, nicht das Video selbst) und dann ein Interview mit einem Ex-Wagner “Mitarbeiter”, der live berichtet, wie er kleine Mädchen in Bakhmut per Kopfschuss hinrichtet. Sollte man sehen, wenn man sich fragt, warum die Ukraine kämpft.
2. United24: Abschied des ukrainischen Trainingsjahrgangs
Verabschiedung ukrainischer Rekruten nach dem Training in UK. Ihre NATO- Ausbilder:innen wissen, wo es für die jungen Leute jetzt hingeht. Die alten Hasen verabschieden ihren “Jahrgang” in eine Welt, die sie selbst nie gesehen haben. Da ist viel Solidarität und Trauer in diesen Bildern.
3. Chief Rabbi: Neuer leitender Rabbi bei den ukrainischen Streitkräften
Während Russland nicht müde wird, die Ukrainer:innen als Nazis zu diffamieren, setzt die ukrainische Armee einen Chef-Rabbi ein. David Milman heißt er und dient als Kaplan in der ukrainischen Armee.
Das war meine kurze Ukraine-Presseschau am 23. April 2023. Persönliche Hoffnung: Dass ich diesen Ukraine-Newsletter nicht mehr lange schreiben muss und dass die ukrainische Frühjahrsoffensive bald den Erfolg zeigt, der die Freiheit des Landes wiederherstellt. Wer diesen Newsletter weiterempfehlen mag: Sehr gerne.