Ukraine Bookmarks 438
Neue Bellonas Ukraine Leseliste am 438 Tag des Ukraine Kriegs (7. Mai 2023)
#3Links3Tweets ist eine kuratierte und kommentierte Liste an Links zum Ukraine Krieg, die ich aktuell lesenswert finde und alle zwei Wochen erscheint. Ukraine Bookmarks ist eine Art bewerteter Mini-Presse-Reader zum schlimmsten und wahrscheinlich folgenreichsten Krieg in Europa seit 1945 mit den subjektiv lesenswertesten Posts dazu. Meinen anderen Newsletter
findet ihr hier.Der Ukraine Krieg durch meine Brille am 438. Tag:
“In case of failure” ist der Titel einer Gänsehaut-erregenden Notiz, die Dwight D. Eisenhower, Oberbefehlshaber des alliierten Expeditionskorps, Anfang Juni 1944 auf einen Zettel schrieb. Die anstehende alliierte Invasion in Frankreich stand vor der Tür. Ein gewaltiges, hochkomplexes Unterfangen mit hunderttausenden von Soldaten gegen einen in Frankreich 1944 immer noch gut befestigten und starken Gegner. Eisenhower wusste, dass er in Sachen Technik und Manpower gut aufgestellt war. Aber wie gut? Das würde er erst in den Tagen nach dem 6. Juni 1944 wissen.
Seine handschriftliche Notiz “In Case of Failure” ist bis heute in den US Nationalarchiven erhalten. Er notierte als Sprechtext:
Unsere Landungen im Raum Cherbourg-Havre haben keinen zufriedenstellenden Erfolg gebracht, und ich habe die Truppen zurückgezogen. Meine Entscheidung, zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort anzugreifen, beruhte auf den besten verfügbaren Informationen. Die Truppen, die Luftwaffe und die Marine haben alles getan, was durch Tapferkeit und Pflichterfüllung möglich war. Wenn dem Versuch irgendeine Schuld oder ein Fehler anhaftet, so liegt das allein an mir.
Unsere Version der Geschichte zeigt uns heute, dass die Landung in der Normandie ein gewaltiger Erfolg war. Aber in der anderen Timeline damals, in der noch alles möglich war, wusste man damals nicht. Zweifel existierten im frühen Juni 1944 vor allem mit Blick darauf, ob das Wetter mitspielt (die Wolken zogen nach tagelangem Regen am 6. Juni überraschend auf und machten die Landung von hunderttausenden möglich), das Timing passt (der deutsche Oberbefehlshaber Rommel war bei seiner Frau zur Geburtstagsfeier statt am Westwall, mehrere Offiziersstäbe waren weg für Übungen) und die Desinformation ausreichend war (man wusste nicht, ob die Deutschen wirklich glaubten, dass man bei Calais landet). Jeder dieser Faktoren hätte zum Scheitern der Operation Overlord und damit dem Sieg der West-Alliierten über Nazi-Deutschland führen können. “In Case of Failure” war trotz materieller Überlegenheit immer eine Möglichkeit.
Der britische General a.D. Sir Richard Dannatt schrieb:
"Wäre der D-Day gescheitert, hätte es Jahre und nicht nur Monate gedauert, bis die Kräfte für einen weiteren Invasionsversuch gesammelt worden wären. Die Russen hätten wahrscheinlich ihren Vormarsch auf Westeuropa fortgesetzt, allerdings in einem langsameren Tempo, da mehr deutsche Reserven zur Verfügung gestanden hätten, die gegen sie eingesetzt werden konnten. Ich glaube nicht, dass die strategische Bombardierung eine Lösung gebracht hätte, und die USA hätten ihre Hauptanstrengungen auf den Pazifik verlagert.
Wann ist eine Offensive eine Offensive?
Seit Monaten wird die große ukrainische Offensive erwartet und herbeigeschrieben. Das Wetter war bisher das Hauptproblem, denn in der Matschsaison “Rasputiza” sind schnelle Bewegungen kaum möglich. Gestützt von westlichen Waffenlieferungen wird in die anstehende ukrainische Offensive nicht viel weniger Erwartungen gesetzt als in den D-Day seinerzeit. Aber was passiert, wenn sie scheitert? In Kiew hat man scheinbar durchaus zunehmend Sorgen, dass der Hype größer ist als das tatsächliche Ergebnis. Aber, was wenn? Wird der Westen seine Unterstützung minimieren? Wird die Ukraine eine große Flanke bieten, um dann doch noch Russland zu einem überraschenden Manöver zu verleiten und den Krieg zu gewinnen? Wir wissen es nicht. Aber wir werden bald eine Offensive sehen, auch wenn wir nicht genau wissen, was wir sehen werden.
In der aktuellen Folge des NDR Info Podcasts Streitkräfte und Sicherheit spricht der geschätzte Nico Lange (Senior Fellow, Zeitenwende-Initiative bei der Münchner Sicherheitskonferenz) über die anstehende Offensive und auch wie wir sie wahrnehmen werden. Kernaussage: “Diese eine große Panzerschlacht, das ist nicht das, was wir sehen werden.” Und der australische General Mick Ryan schrieb schon vor über einem Monat in einem sehr lesenswerten Artikel über “die kommenden ukrainischen Offensiven”
Es wird nicht nur einen großen Vorstoß geben, sondern wahrscheinlich mehrere verschiedene Offensiven. Das liegt daran, dass sowohl der Süden als auch der Osten Gelegenheiten für offensive Aktionen bieten. Aber es liegt auch daran, dass die Ukrainer Russland über ihre Hauptanstrengung täuschen wollen.
Heißt: Anders als in der öffentlichen Wahrnehmung verankert, könnte es sein, dass wir zunächst gar nicht wissen werden, dass eine Offensive gestartet hat. Und die Trommeln werden lauter: Letztes Wochenende griff die Ukraine ein großes russisches Tanklager auf der Krim an, vor drei Tagen auf russischem Boden in Kertsch. Alleine in den letzten Tagen sind zwei Züge mit Rohstoffen und Logistik auf russischer Grenzseite zum Entgleisen gebracht worden. An der großen Krimbrücke ist man mit Blick auf den 9. Mai (Siegestag in Russland) scheinbar ziemlich nervös. Und die Ukraine zerstört seit Wochen systematisch russische Ausrüstung für die elektronische Kriegsführung - vital, um eine Offensive starten zu können. Die Vorbereitung ist in aktivem Gange. Aber wie die Offensive “aussieht”, werden die Geschichtsbücher zeigen.
Wer diesen Ukraine-Newsletter wertvoll findet, darf ihn sehr gerne teilen. Ich versuche, ihn ungefähr alle zwei Wochen zu versenden mit einem subjektiven Wrap-Up der Lage.
Krieg der Privatunternehmer
Wer eine Idee davon braucht, wie Russland seinen Weg in Zerfall und Bürgerkrieg ebnet, ist in den letzten Tagen mit Material reicht beschenkt worden. Hintergrund ist die - absolut Invasions-relevante - Eskalation des Streits zwischen Wagner-Chef Prigozhin und der russischen Militärführung um Verteidigungsminister Shoigu und General Gerassimow, Generalstabschef und Ober-Babo der “Sonderoperation”.
Wagners oft aus Gefängnissen rekrutierte Mörder hatten bis zum Ukraine Krieg ein ganz einträgliches Leben, das vor allem darin bestand, in Afrika Staaten zu destabilisieren, Menschen unglücklich zu machen und Rohstoffminen für Wagner zu requirieren. Mit dem Ukraine-Krieg zog das Gros von Wagner in die Ostukraine, rekrutierte vor allem in russischen Gefängnissen Schwerkriminelle, die man entweder als Expendables ins Feuer schicken konnte oder die dann nach Entlassung die Einwohner:innen ihrer russischen Heimatdörfer ermordeten.
Nun hatte Herr Prigozhin immer eine Superkraft: Social Media. Er war besser mit dem Spiel mit russischen Militärbloggern. Zudem hat er Wagner erfolgreich als die dynamischen heißen Hunde positioniert gegenüber dem verhassten, bürokratischen Militär-Staatsapparat unter Shoigu. Prigozhin und sein tschetschenischer Buddy Kadyrow wurden immer frecher und forderten immer offensiver die russische Militärführung heraus.
Letzte Woche dann der erste Knall (von dem man immer noch nicht weiß, ob er echt oder Desinformation ist). Prigozhin beschimpft die russische Militärführung, dass er nicht genug Munition bekommt, posiert dann angeblich in Bakhmut vor seinen Jungs und kündigt den Rückzug an.
Heute Nacht tauchte plötzlich ein Brief von Prigozhin auf, in dem er formal die Ablösung seiner Söldner in Bakhmut durch die Tschetschenen seines Freundes Kadyrow erbittet.
Das alles ist absolut haarsträubend, denkt man an die Zukunft Russlands. Prigozhin wetterte - mal mit tschetschenischer Unterstützung, mal ohne - immer gegen Russlands unbeliebte Militärführung. Sein souveräner Umgang mit Telegram und Co machten ihn zum Start der rechtsextremen Blogger und sein “unkonventioneller" und äußerst brutaler Umgang mit Wagner noch mehr. Man denke an den in sozialen Medien geteilten Mord an einem Überläufer mit einem Vorschlaghammer, den er dann noch an die EU nach Brüssel schickte. Aber Geschwindigkeit und Aggressivität ist nur ein Teil des Games in Russland. Man muss auch nach den Regeln spielen können. Das Dickicht des Establishments ist eng und man mag keine Emporkömmlinge, die einen in Sozialen Medien beleidigen.
Prigozhins angeblicher Abzug aus Bakhmut kann aktuell alles sein. Eine Finte, um eine vorschnelle ukrainische Offensive zu provozieren. Oder aber ein echter Rückzug und damit potenziell auch die Rücknahme einer der aggressivsten russischen Söldnereinheiten ins Hinterland. Wagner wird weiter eine Rolle spielen, aber gegebenenfalls als marodierende Landsknechtbande im Donbass oder in Afrika. Und was auch immer Russlands Zukunft für das Land bereit hält: Mit den Killern von Wagner des Landsknechtsführers Prigozhin ist zu rechnen. Think Dreißigjähriger Krieg.
Aber auch in der Ukraine scheinen die Privatleute an einigen Punkten die Kriegsführung in Eigenregie zu übernehmen. Glaubt man dem Spiegel, war der spektakuläre Drohnenangriff auf den Kreml vom 3. Mai Werk privater Akteure in der Ukraine, die weit reichende Drohnen in Privatregie konstruieren und zum Einsatz bringen. Der ukrainische Unternehmers Wolodymyr Jazenko wird hier als Akteur in einem sehr lebendigen Drohnen-Startup Ökosystem zitiert, in dem mal ausprobiert wird, was geht. Die Kreml Drohne? Eine Art Prototyp aus einem Hackathon mit Preisgeld. Briefing: Wer schafft es, in Privatregie eine Drohne zu konstruieren, um den Kreml zu demütigen?
Der Ukrainekrieg erschöpft beide Seiten. Gleichzeitig stellt ein langer Krieg nicht erst seit dem 17. Jahrhundert einen Anreiz für Glücksritter und Kriegsunternehmer dar. Keine der Seiten kann auf diese Leute wirklich verzichten. Aber es dürfte Russland sein, das mit seinen bösartigen, unkontrollierbaren Landsknecht-Heeren die Büchse der Pandora aufgemacht hat. Wenn ich einen Tipp für Russlands Desintegration habe, dann sind es die Wagner-(und verwandte Organisationen)-Heere, die den Staat herausfordern und die den Keim zu Bürgerkrieg und viel Destabilisierung in der russischen Provinz in sich tragen. Denn was passiert, wenn die meist schwerkriminellen Kollegen nach Straflager und sechs Monaten Einsatz in der Ukraine vollalkoholisiert nach Hause kommen, dürfen gerade viele russische Dörfer und Kleinstädte erleben. Spoiler Alert: Es macht keinen Spaß einen daueralkoholisierten, wütenden, an Massenmord gewöhnten Schwerkriminellen in der Nachbarschaft wohnen zu haben.
Drei aktuelle Links zum Ukraine Krieg
1. “Battle for Hostomel Airport”
Youtube, 15. April 2023
Heute mal zum Auftakt ein sehr sehenswertes Video. Wenn es irgendwann eine Historie des Ukraine-Kriegs aus militärischer Sicht geben wird, wird die Schlacht um Hostomel in den ersten Kriegstagen sicher als ein entscheidendes erstes Aufeinandertreffen gezeichnet, durch das die Ukraine im Spiel blieb. Hostomel ist ein Flughafen, der westlich von Kiew liegt und in den ersten Kriegstagen Ziel einer russischen Luftlandeoperation wurde. Ziel war es, Hostomel einzunehmen, schweres Material einzufliegen und Kiew im Handstreich zu besetzen. Der Plan funktionierte fast. Aber nur fast. Wäre er gelungen, könnte unsere Realität heute möglicherweise völlig anders aussehen.
2. “Bürgermeister von Odessa festgenommen”
NTV, 4. Mai 2023
Gibt es in der Ukraine Korruption? Definitiv gibt es die. Fragt sich nur, wer korrupt ist und wer dagegen vorgeht. In der ukrainischen Großstadt Odessa wurde gerade Bürgermeister Hennadij Truchanow festgenommen wegen Korruption. Truchanow wurde schon 2018 von der Süddeutschen “Nähe zur Mafia” unterstellt, weil er mutmaßlich blendend bei diversen Immobiliengeschäften abkassiert hat. Nun ist es so, dass Truchanows in der Ukraine äußerst sichtbarer Fall, nicht irgendeinen Politiker trifft. Truchanow kam 2014 ins Amt als Teil der alten pro-Kreml Clique um Ex-Machthaber Wiktor Janukowytsch - also die korrupte Elite, gegen die dann der Maidan Aufstand ausbrach. Mit Kriegsausbruch hatte der Putin-freundliche Truchanow dann wohl ein kleines Loyalitätsproblem, weil er nun Odessa gegen seine alten Freunde verteidigen musste. Kennen wir in Deutschland: Wendehals nannte man das damals nach Mauerfall.
3. “Wie isoliert ist Russland international wirklich?
Gallup, 25. April 2023
Wer dem populistischen immer-bauchgefühligen deutschen Narrensaum zwischen Linke und AfD zuhört, bekommt ja fast die Idee, dass Russlands illegaler Angriffskrieg gegen die Ukraine international toleriert wird. Natürlich ist es so, dass viele Länder dieser Welt einen Vorteil aus ihrer Neutralität schlagen. Von China bis zur Schweiz ziehen viele Nationen eine profitable Neutralität gegenüber Russland klarer Worte vor. Aber die Realität ist komplexer. Gallup hat eine sehr interessante Studie publiziert, die Russlands Isolation weltweit gut aufzeigt. Von 137 Ländern lehnen 81 Staaten Russlands politische Führung ab.
Drei Tweets
Tweets sind nur verlinkt, nicht eingebettet.
1. War Mapper: Territorialveränderungen in der Ukraine seit 2022
War Mapper ist eines der besten OSINT Accounts, vor allem mit Blick auf territoriale Veränderungen. Die schneiden jeden geografischen Zipfel mit, der den Besitzer wechselt. Anbei ein aus Infovisual-Gesichtspunkten sensationelles Diagramm, das die Veränderung der territorialen Hoheit zwischen Russland und der Ukraine seit 2014 dokumentiert. Bottom Line: Russland hat seit kurz nach Kriegsbeginn fast nur noch Gebiete verloren.
2. Thomas Theiner: Die Offensive im Süden
Thomas Theiner ist Ex-Militär und ziemlich kenntnisreicher (und hellsichtiger) Beobachter des Ukrainekriegs. Sein Thread zur anstehenden ukrainischen Offensive macht geografisch einiges klarer, wo man auf Bewegung gefasst sein muss. Wenig überraschend, dass auch Russland das weiß. Hier liegt genau die Herausforderung.
3. Die Friedensformel
Für alle leicht verwirrten deutschen Friedensengel, die glauben, dass die Ukraine einfach nur die Waffen niederlegen muss und dann ist alles wieder gut, hat Freenois hier eine Mini-Animation gebaut, die nochmal kurz das Völkerrecht im Ukraine-Krieg thematisiert. Es ist recht simpel. Der Film ist verlinkt.
Das war meine kurze Ukraine-Presseschau am 7. Mai 2023. Persönliche Hoffnung: Dass ich diesen Ukraine-Newsletter nicht mehr lange schreiben muss und dass die ukrainische Frühjahrsoffensive bald den Erfolg zeigt, der die Freiheit des Landes wiederherstellt. Wer diesen Newsletter weiterempfehlen mag: Sehr gerne.