Ukraine Bookmarks 452
Neue Bellonas Ukraine Leseliste am 452 Tag des Ukraine Kriegs (21. Mai 2023)
#UkraineBookmarks ist eine kuratierte und kommentierte Liste von Links zum Ukraine Krieg, die ich aktuell lesenswert finde und teilen möchte. Sie erscheint alle zwei Wochen. Ukraine Bookmarks ist eine Art bewerteter Mini-Presse-Reader zum schlimmsten und wahrscheinlich folgenreichsten Krieg in Europa seit 1945 mit den subjektiv lesenswertesten Posts dazu. Meinen anderen Newsletter
findet ihr hier.Der Ukraine Krieg durch meine Brille am 452. Tag:
Gestern fiel Bakhmut.
Russische Wagner Truppen haben wohl die letzten Teile Bakhmuts besetzt oder sind zumindest kurz davor. Die letzten ukrainischen Einheiten sind aufgerieben, auf dem Weg nach Westen oder versuchen aktuell den Ausbruch noch. Russlands Telegram Warriors triumphieren, die Unterstützer:innen der Ukraine spielen den Verlust der Ukraine herunter oder wähnen ihn nur als eine Falle für die russischen Truppen, die bald zuschnappt. Fragt sich nur wann.
292 Tage hat der Kampf um die zu guten Zeiten 70.000 Einwohner:innen zählende Stadt im Donbass gedauert. Bakhmut ist mittlerweile nur noch ein Haufen Steine. Viele Menschen dürften dort ohnehin schon seit einer Weile nicht mehr leben.
Bilder von Bakhmut vom 13. Mai. Das ist kein Nebel. / Glasnost Gone auf twitter:
Der blutige Kampf um die relativ kleine Stadt Bakhmut verwirrt Beobachter:innen, weil sich der Sinn des Kampfs um ausgerechnet diese Stadt nur wenigen wirklich erschließt. Bakhmut ist nicht groß (vergleichbar zu top Zeiten mit Ludwigsburg oder Worms), die Stadt hat keine wesentliche strategische Lage und sie bietet auch keinen Zugriff auf kriegswichtige Ressourcen.
Warum wurde also ausgerechnet dort über so lange Zeit von beiden Seiten so erbittert gekämpft?
Auf der einen Seite steht Präsident Selensky und der ukrainische Generalstab, die Stein und Bein schworen, Bakhmut nicht aufzugeben und stattdessen die ukrainischen Truppen zu verstärken. Und das obwohl die US-Verbündeten den Verlust von Bakhmut schon im Januar fürchteten. Man muss kein besonders begabter Armchair-General sein, um zum Schluss zu kommen, dass die Ukraine in der Bewegung näher am Sieg dran ist als in statischen Stellungskriegen.
Auf der anderen Seite steht der nicht minder unter Druck stehende Wagner-Chef Prigozhin, dessen Söldner in menschlichen Wellen gegen ukrainische MG-Nester vorgeschickt wurden, um Ultimatum um Ultimatum zur Einnahme Bakhmuts nicht zu schaffen. Zuletzt ging Prigozhin mit einigen wilden Beleidigungen gegen Verteidigungsminister Shoigu und Abzugsdrohungen seiner Wagner-Söldner in die Sozialen Medien. Begleitet wurde das alles bis zuletzt von heftigen russischen Artillerieangriffen mit Brandmunition auf Bakhmut. Ob das alles eine Finte war, um die ukrainische Armee vom kurz bevorstehenden Zusammenbruch der russischen Bakhmut-Front zu überzeugen und zu dummen Manövern zu verleiten? Möglich.
Für die Stadt Bakhmut macht es keinen Unterschied. Sie sieht heute, am 20. Mai 2023, genau so aus, wie das am 20. Mai 2022 “befreite” Mariupol. Ein abgebrannter Friedhof mit den Leichen Tausender zwischen den Trümmern. So sieht es aus, wenn die schöne Russkij Mir in eine ehemals lebendige Kleinstadt Einzug hält (Link hier).
Der Propaganda-War tobt wieder
Bakhmuts Verlust ist für die Ukraine vor allem ein politischer Verlust. Souverän sieht Präsident Selensky gerade nicht aus, wenn er den Verlust Bakhmuts verneint, obwohl schon seit Wochen jedem klar ist, dass dieser bevorsteht, wenn kein Wunder geschieht. Nicht nur in Deutschland dürften Begriffe wie “Festung Bakhmut” unheilvolle Erinnerungen an die grausame und sinnlose Nazi-Verteidigung von Städten wie Breslau und Königsberg wachrufen.
Auf der anderen Seite täuscht auch das russische Triumphgeheul nicht darüber hinweg, dass sie einen Großteil ihrer noch offensivfähigen Armee in Bakhmut aufgerieben haben, mit Folgen für alles, was nun kommen dürfte. Denn die Frage ist, wie viel Reserve die Ukraine nun tatsächlich noch hat und wer bei Bakhmut eine Falle gelegt hat.
Russland, das in seiner Winteroffensive gerade mal den gelb schraffierten Teil der Ukraine erobern konnte… (mit Bakhmut West ist es jetzt ein Pixel mehr)
…feiert sich so ab, wie es heute Morgen ein Tweet lakonisch zusammenfasste.
Vermutlich werden wir erst Ex-Post sehen, warum Bakhmut zu der grausamen Schlacht wurde, die es wurde. Denn auch Sieg und Verlust in Bakhmut muss als Propaganda-Tool in der Frage gesehen werden, wie wir die offensichtlich immer noch anstehende Offensive einordnen. Und da tut Russland gerade einiges.
Faktisch steht die Ukraine, wie der stets gut informierte und ziemlich schlaue Analyst Franz-Josef Gady in einem sehenswerten Video-Interview sagte “—-gerade in der Anfangsphase einer Gegenoffensive.” Dazu passt auch das Zitat eines US-Generals gegenüber CNN, der anführt, dass die Ukraine “Shaping Operations” begonnen habe - also vorbereitende Angriffe, um vor allem das gegnerische Hinterland so zu stören, dass Logistik, Kommunikation, Aufklärung etc. beim Gegner nicht mehr gut funktionieren.
Und dann bemüht sich Russland aktuell genau diese Gegenoffensive zu verhindern. Einerseits durch bisher ungesehene Angriffe auf ukrainische Depots wie in Khmelnytskyï (die dann als Bilder direkt ins Netz gestreamt werden), aber eben auch durch die Einnahme der letzten Häuser in Bakhmut. Nichts davon ist als Einzel-Event inhaltlich kriegsentscheidend. Aber man merkt, wie gut diese Bilder in den russischen Info-War passen, der Putins-Papageien den Weg freimachen soll zur Meinungsführerschaft im Westen.
Frei erfundene Zahlen werden von zerstörtem westlichen Militärequipment werden von russischen Trollfarmen vorgeschrieben. Und auch eine angebliche radioaktive Wolke hängt über Westeuropa, weil Russland angeblich ein Depot mit abgereicherter britischer Uranmunition für die Ukraine getroffen habe. Nichts davon stimmt. Aber dank großer, sehr toxischer Accounts und Elon Musks neuer Hands-off Politik geht auf twitter nun wieder alles viral, was der Kreml einspeist. In Sachen Info-War ist Elon Musk ein Gottesgeschenk für Putin.
In die gleiche Kerbe schlägt der Propaganda-Krieg mit Blick auf den neu entflammten Raketenkrieg Moskaus gegen die Ukraine. Anders als noch im Winter, wo Kraftwerke und Strominfrastruktur im Mittelpunkt der russischen Marschflugkörper- und Drohnenangriffe standen, zielt Moskau nun auf die neuen westlichen Waffen und vor allem die deutschen und US-Patriot-Systeme ab.
Anders als noch vor eineinhalb Jahren verfügt die Ukraine mittlerweile über eine sehr fortgeschrittene Luftabwehr aus westlicher Produktion. Eine US- und eine deutsche Patriot-Batterie verteidigen u.a. Kyiv zusammen mit IRIS-T Raketen mittlerer Reichweite. Moderner verteidigt sich auch die NATO selbst nicht. Um potenziell an ukrainische Depots heranzukommen, muss Russland diese Luftabwehr ausschalten. Mittel der Wahl scheint hierzu die in begrenzten Stückzahlen verfügbare Kinzhal Hyperschallrakete zu sein, die laut russischer Propaganda nicht abfangbar ist. Genau das, so die ukrainische Position, sei aber in den letzten Wochen gleich mehrfach passiert: Am 5. Mai bestätigte die Ukraine den ersten Abschuss einer Kinzhal (wenn korrekt, dann ist das für die gesamte NATO ein Fundus an Daten, mit denen man arbeiten kann). Bei einem der heftigsten Angriffe auf die ukrainische Luftabwehr-Infrastruktur sollen gleich sechs der schnell fliegenden Gleitraketen abgeschossen worden sein (wünschenswert aber unwahrscheinlich). Moskau behauptet, im gleichen Angriff eine (dezentral aufgestellte) komplette Patriot Batterie mit Radar-System und fünf Abschusscontainern zerstört zu haben. Und das obwohl man maximal zwei Kinzhals überhaupt abgefeuert habe. Kurz: Nicht viel von dem, was beide Seiten reporten, macht wirklich Sinn. Sollte aber an der ukrainischen Version mehr dran sein als an der russischen Variante, dann dürfte das auch Folgen für die russische Wahrnehmung eines Nukleareinsatzes haben. Denn, wenn die Ukraine die modernsten russischen Raketen einfach runterholen kann, funktioniert auch die Drohung mit der Bombe nicht mehr verlässlich.
Und die Offensive?
Während russisches Triumphgeheul über explodierende Depots und den ukrainischen Verlust von Bakhmut derzeit in Echtzeit in Social Media Content übersetzt wird, passiert etwas auf der ukrainischen Seite. Und man weiß noch nicht genau, was.
Das Wall Street Journal schrieb am 20. Mai, dass die Ukraine knapp 20 Brigaden als Reserve für die Offensive zurückgehalten hat. Andere Quellen sprechen von 25 Brigaden, was genug sein müsste für eine Offensive - gerade wenn diese Brigaden nun mit modernen NATO Waffen ausgerüstet sind.
Eine These zum Status von Bakhmut lautet: Es war eine ukrainische Falle, um russische Truppen abzunutzen und nun in der Stadt einzuschließen. Schon bald schlössen sich Flankenoperationen nördlich und südlich von Bakhmut um die Stadt. Die abgenutzten russischen Truppen in der Stadt müssten sich bald ergeben. Die Ukraine kommt zurück.
Wir werden in den nächsten Tagen sehen, ob da etwas dran ist. Aber natürlich gibt es eine durchaus bestehende Wahrscheinlichkeit, dass sich die Ukraine in Bakhmut einfach verhoben hat und die Offensive nicht so abläuft wie gedacht. Auch auf Seiten der Ukraine ist viel Hoffnung, verletzter Stolz und “Hopium” Teil des öffentlichen Diskurses, der natürlich in Sozialen Medien bis zum Exzess getrieben wird. So höhnisch und menschenverachtend russische Militärblogger kläffen, umso mehr muss der Verlust dieser Stadt als Plan verkauft werden, der schon bald Sinn macht und zum Sieg über Russland führt.
Ich wünsche der Ukraine, dass dem so ist. Ich bin mir dennoch nicht sicher, ob es so kommt.
Wer diesen Ukraine-Newsletter wertvoll findet, darf ihn sehr gerne teilen. Ich versuche, ihn ungefähr alle zwei Wochen zu versenden mit einem subjektiven Wrap-Up der Lage.
3 aktuelle, lesenswerte Links zum Ukraine Krieg:
Was man diese Woche gelesen haben könnte.
1. “Die Wahl zwischen Freiheit und Angst”
Republic / The Atlantic, 20. Mai 2023
Anne Applebaum ist eine der profiliertesten Kenner:innen der Ukraine. Ihr Text “Counteroffensive. The Case for total liberation of Ukraine” ist eigentlich in ihrem Hausmagazin “The Atlantic” erschienen. Der Text, der mit den eindrucksvollen Bildern von Armin Smailovic erschienen ist, erklärt durch viele kleine Front-Begegnungen und durch ein Treffen mit Volodymyr Selensky, warum der Sieg der Ukraine so fundamental wichtig für die Zukunft der liberalen Werteordnung ist:
Ein Kampf, «um allen anderen, einschliesslich Russland, zu zeigen, dass man die Souveränität, die Menschenrechte und die territoriale Integrität respektiert und dass man Menschen respektiert, dass man keine Menschen tötet, dass man keine Frauen vergewaltigt, dass man keine Tiere tötet und dass man sich nicht nimmt, was einem nicht gehört».
Wenn eine Ukraine, die an Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte glaubt, einen Sieg gegen eine viel grössere, viel autokratischere Gesellschaft erringen kann, und wenn sie dies unter Wahrung ihrer eigenen Freiheiten tun kann, dann können ähnlich offene Gesellschaften und Bewegungen in der ganzen Welt ebenfalls auf Erfolg hoffen.
Photo: Oleksandr Ratushniak / UNDP Ukraine, Attribution-NoDerivs 2.0 Generic (CC BY-ND 2.0)
2. “Ending German Indecision-Making”
War on the Rocks, 19. Mai 2023
“Kein Bock mehr auf deutsches Drama”. So könnte man diesen lesenswerten “War on the Rocks” Artikel zum Stand der deutschen Zeitenwende zusammenfassen. Klar ist, dass sich Deutschland verändert und seine traditionelle Position gegenüber militärischer Gewalt zum Glück überdacht hat. Das letzte Woche auf den Weg gebrachte Ukraine-Paket in Höhe von +2,7 Mrd Euro ist ein weiteres wichtiges Modul in der Unterstützung unseres Landes für die Ukraine. Aber: Die “Zeitenwende” läuft eben auch trotz eines hervorragenden neuen Verteidigungsminsters schleppend ab. Manchmal braucht man eben ausländische Kommentatoren, wenn man Deutschlands neue Rolle in der Welt einordnen soll. Denn Deutschland “soll jetzt liefern” - und zwar strategisch im Rahmen seiner neuen Nationalen Sicherheitsstrategie, die kommende Woche, am 25. Mai, vorgelegt wird. Da darf man gerne die Öhrchen spitzen, wie und was da geschrieben wird.
3. “Fleischwolf: Die russische Taktik im zweiten Jahr der Invasion in der Ukraine”
RUSI (Royal United Services Institute), 19. Mai 2023
Das Royal United Services Institute (RUSI) ist das weltweit älteste Sicherheits-Institut und der führende Think Tank für Verteidigung und Sicherheit im Vereinigten Königreich. Etwas über ein Jahr nach der Invasion Russlands in der Ukraine hat sich auch die russische Kriegsführung angepasst. Der verlinkte Report ist harter Tobak und man braucht Zeit dafür. Er gibt eben aber auch sehr gut informiert Aufschluss über die taktische Anpassungsfähigkeit der russischen Streitkräfte im Jahr 2 der illegalen Invasion in der Ukraine. Ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie und wohin sich Russlands Armee und ihre mordenden Söldner-Verbände entwickeln, ist ein Schlüssel zum Sieg der Ukraine.
Drei Tweets
Tweets sind nur verlinkt, nicht eingebettet.
1. Begegnung
Absolut unwirklicher Moment der Begegnung in einem Krieg, die wie aus zwei Jahrhunderten wirkt. Auf der einen Seite ein russischer Deserteur, der zu Fuß in den Weiten der Ukraine nach Hause läuft. Alleine. Auf der anderen Seite eine ukrainische Drohne, die über einen Acker fliegt und den Mann fixiert. Beide sehen sich, der Mann winkt, dreht sich um und stapft weiter. (hier verlinkt)
2. Ausrüstung
Volodymyr Dachenko mit einem lesenswerten Twitter Thread zum Stand der Ausrüstung Ukraine x Russland nach eineinviertel Jahren Krieg und kurz vor der wohl anstehenden ukrainischen Offensive. Kann man hier lesen.
3. Korruption
Christo Grozev ist einer der umtriebigsten Kenner von Russlands (Un)Sicherheitsstruktur und arbeitet gerne im Bellingcat Umfeld. Christo ist letzte Woche mit einer sehr interessanten, sehr steilen These losgezogen, die wiederum das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Russlands Nuklearwaffen beeinflusst. Die These: Weitreichende Korruption hat Russlands nukleares Frühwarnsystem lahmgelegt. Korrupte Offiziere hätten beim Einkauf wichtiger technischer Komponenten von Radarsystemen die Billigversionen eingebaut und damit nennenswerte Lücken im Raketenabwehrschirm Russlands offengelassen.
Das war meine kurze Ukraine-Presseschau am 7. Mai 2023. Persönliche Hoffnung: Dass ich diesen Ukraine-Newsletter nicht mehr lange schreiben muss und dass die ukrainische Frühjahrsoffensive bald den Erfolg zeigt, der die Freiheit des Landes wiederherstellt. Wer diesen Newsletter weiterempfehlen mag: Sehr gerne.