Ukraine Bookmarks 480
Neue Bellonas Ukraine Leseliste am 480. Tag des Ukraine Kriegs (18. Juni 2023)
#UkraineBookmarks ist eine kuratierte und kommentierte Liste von Links zum Ukraine Krieg, die ich aktuell lesenswert finde und teilen möchte. Sie erscheint alle zwei Wochen. Ukraine Bookmarks ist eine Art bewerteter Mini-Presse-Reader zum schlimmsten und wahrscheinlich folgenreichsten Krieg in Europa seit 1945 mit den subjektiv lesenswertesten Posts dazu. Meinen anderen Newsletter
findet ihr hier.Der Ukraine Krieg durch meine Brille am 480. Tag:
Nachdem ich in meinem zweiwöchigen Rhythmus tatsächlich einmal mit Neue Bellona ausgesetzt habe, ist es Zeit, wieder zu starten. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten kann ich etwas anderes schreiben als: “Irgendwann bald startet die ukrainische Offensive”, denn die hat begonnen. Und darauf möchte ich in meiner kommentierten Linkshow den Blick richten.
Die ukrainische Offensive
Offensiven starten ja selten mit einem großen Start. Sie beginnen langsam in unterschiedlicher Intensität an unterschiedlichen Stellen. Seit ungefähr dem 5./6. Juni 2023 tritt die Ukraine die nächste Phase ihrer Offensive an. Und das primär an fünf Stellen.
Neben den zwei Teiloffensivarmen in Donetsk im Norden sind die drei Offensivarme nach Saporischschja im Süden von besonderer Bedeutung. Hier arbeiten sich drei Minioffensiven durch mehrfach gestaffelte russische Verteidigungsanlagen durch. Der Ziel heißt Tokmak. In der massiv von Eisenbahnlogistik abhängigen Ukraine spielt eben auch die Kontrolle über große Logistikhubs eine entscheidende Rolle. Die Stadt Tokmak ist ein solcher Hub für Russland. Besetzt die Ukraine Tokmak, kann sie quasi den gesamten russischen Verkehr aus dem Donbas in den russisch besetzten Süden abschneiden. Mit der Besetzung Tokmaks stünden Russlands Invasoren vor einem großen Versorgungsproblem, das jetzt schon im Süden durch die Sprengung des Kachowkaer Stausees entstanden ist: denn der Trug das Wasser in den gesamten russische besetzten Süden und auf die Krim.
Die ukrainischen Truppen haben zwar scheinbar heftige Verluste in den letzten Tagen erlebt, müssen aber nicht allzu viel Geografie überwinden bis Tokmak (25km) und bis Berdiansk und Melitopol (60-90km). Der strategischer Schnitt durch Saporischschja zum Azowschen Meer dürfte der logische Plan sein.
Was aber tatsächlich ist und was nicht ist, weiß man derzeit als Außenstehender kaum und das ist gut so.
Die Ukraine hat weitgehende Funkstille über ihre Offensive verhängt. “Loose Lips Sink Ships” war ein britisch-amerikanische Redensart im Zweiten Weltkrieg, die sich auf arglose Gespräche bezog, die dann Versorgungskonvois gefährdeten. Und das gilt auch in der Ukraine. Passend produzierte die Ukraine zwei wirklich gut gemachte Propagandavideos zum Start der Offensive: einmal mit Chefspion Budanov und einmal mit Soldaten der ukrainischen Armee. Tagline: “Plans Love Silence.”
Auf der anderen Seite stehen echte Verluste auf der ukrainischen Seite und die russischen Propagandisten. Offensiven sind natürlich verlustreicher als Defensiven, weshalb sie im üblicherweise im Verhältnis 4:1 oder 5:1 durchgeführt werden. Und bei allem, was man sieht, haben die ukrainischen Truppen auch in Sachen westlichen Materials Verluste erlitten. Nur, was für Verluste: Das wissen wir nicht. So wird seit Tagen das russische Bild eines ukrainischen Angriffs im Süden genüßlich durch die Medien gezogen, bei dem scheinbar viele westliche Technik in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Dass das Gros westlicher Technik mittlerweile geborgen und repariert ist, wird dabei nicht erwähnt. Nachstehend ein US-M2 Bradley Schützenpanzer der ukrainischen Armee, der einen Direkttreffer mit einer russischen Artilleriegranate abbekommen hat. Die Besatzung überlebte, das Fahrzeug konnte abgeschleppt und in die Instandhaltung gebracht werden. Das würde kaum ein Fahrzeug aus russischer Produktion schaffen.
Die Besatzung des Bradleys überlebte, das Fahrzeug konnte abgeschleppt und in die Instandhaltung gebracht werden. Das würde kaum ein Fahrzeug aus russischer Produktion schaffen.
Konkret besorgniserregender für die ukrainischen Truppen scheint aber der konzentriertere Einsatz von russischen Kampfhubschraubern zu sein. Ka-52 Alligator heißt das modernste Stück russischer Ausrüstung. Zwar wurden schon (definitiv verifiziert) 35 Stück der modernen Helikopter abgeschossen, dennoch haben die Dinger Lenkwaffen mit 10km Reichweite an Bord. Die notorisch schlecht mit Luftabwehr ausgerüsteten Ukrainer haben da meist wenig gegen zu setzen.
Aber: Dann ist da eben noch die russische Propaganda, die natürlich alles tut, den Gegner als unfähig und sich als übermächtig zu beschreiben. Bildmanipulation ist da natürlich das Gebot der Stunde. Oder wie es der US Verteidiungsminister Lloyd Austin sagte: "Ich glaube, die Russen haben uns die gleichen 5 Fahrzeuge etwa tausendmal aus 10 verschiedenen Blickwinkeln gezeigt."
Wir wissen aktuell tatsächlich nicht viel. Einige Karten zeichnen gute Fortschritte der ukrainischen Streitkräfte. Aber wir reden dabei erstmal immer noch von einigen hundert Metern oder ein paar Kilometern. Mit Blick auf die stattlich ausgebauten Verteidigungsanlagen der Russen möchte ich nochmal diesen 👇 tollen Text von General
aus dem April empfehlen, der eine solche Offensive nochmal gut erklärt.Reuters zitierte am Mittwoch den gut informierten Militäranalysten Konrad Muzyka, nach dem erst 3 der 12 speziell für die Offensive ausgebildeten ukrainischen Brigaden im Süden gesehen wurden. Eine Brigade umfasst bis zu 4.000 Soldaten und die von der Ukraine trainierten Einheiten sind speziell mit westlichen Waffen ausgerüstet und relativ frisch. Stimmt diese These, dass erst ein Viertel der ukrainischen Feuerkraft im “Theater” ist, dann sind wir immer noch eher in den vorbereitenderen Teilen dieser Offensive. Der Hauptteil hat noch nicht begonnen. In den nächsten Wochen werden wir mehr sehen und persönlich hoffe ich sehr auf einen entscheidenden Vorstoß der ukrainischen Streitkräfte, um Russland endlich zurück nach Russland zu bringen und den Krieg zu beenden.
Wer diesen Ukraine-Newsletter wertvoll findet, darf ihn sehr gerne teilen. Ich versuche, ihn ungefähr alle zwei Wochen zu versenden mit einem subjektiven Wrap-Up der Lage.
3 aktuelle, lesenswerte Links zum Ukraine Krieg:
Was man diese Woche gelesen haben könnte.
1. “Counting Russia’s Dead”
BBC, 16. Juni 2023
“Ein einzelner Todesfall ist eine Tragödie, eine Million Todesfälle sind eine Statistik.“ Es dürfte kaum überraschen, dass dieser Satz ausgerechnet von Josef Stalin kommt. Denn natürlich sind Tote eine Zahl, die nach Innen wirkt und etwas aussagt: Wie erfolgreich man ist. Deshalb plustern die meisten Länder die gegnerischen Verluste auf und machen die eigenen Verluste kleiner. Das geht Russland so, das macht auch die Ukraine.
2. “As Ukraine’s counteroffensive heats up, Washington holds its breath”
Washington Post, 14. Juni 2023
Die ukrainische Offensive sorgt natürlich für Spannung im Westen. Scheitert die Offensive oder bleibt sie stecken, könnte der Widerstand gegen die Ukraineunterstützung noch größer werden. Dies läuft natürlich sehr synchron mit russischer Propaganda, die alles dafür tut der wahlweise gefährlichen oder sinnlosen Unterstützung eines korrupten Landes zu bedienen. Nichts könnte weiter von der Wahrheit sein. “The collective West must decide what it wants,” sagt die Anti-Korruptionsbeauftragte der Ukraine in diesem Artikel: “Ukraine knows what it wants.”
3. “Deutschlands neue nationale Sicherheitsstrategie”
NY Times, 14. Juni 2023
Deutschland hat seit wenigen Tagen eine neue Sicherheitsstrategie. Das ist eigentlich in so wilden Zeiten etwas Gutes. Und überraschenderweise ist sie die erste ihrer Art. In ihr werden drei strategische Prioritäten definiert, die für Deutschland die Frage beantworten sollen, wie wir Sicherheit im Europa des 21. Jahrhunderts gestalten wollen. Die New York Times hat sich das Dokument angesehen und die Rolle dieser Strategie. Lesenswert.
Drei Tweets
Tweets sind nur verlinkt, nicht eingebettet.
1. Ziele
Der Analyst Dmitri Alperovitch mit einem weiteren Beispiel für Putins rhetorischen und strategischen Genius (Link).
2. Logistik
Professor Lion Hirth über das gewaltige Depot Bilche-Volytsko-Uherske im Westen der Ukraine mit der vierfachen Kapazität des größten deutschen Depots. (Link)
3. Zynismus
Dass im kollektiven Bewusstsein von Russland nichts sein kann, was nicht sein darf, ist klar. Dieser einzigartige Mix aus Ignoranz und schlechtem Handwerk sorgt dann aber auch bei diesem russischen Propaganda Machwerk für einen ganz eigenen Zynismus. Während der Sprecher “die unbesiegte russische Marine” ankündigt, wird der mit Raketen versenkte Kreuzer Moskwa gezeigt. Auch die hypersonische “Wunderwaffe” Kinzhal ist keine mehr (6 von 6 gestern von der Ukraine abgeschossen worden) und der im Film angekündigte Armata Panzer hat es nicht mal in die Ukraine geschafft, weil das Projekt sich nie materialisiert hatte. Angucken geht hier.
Das war meine kurze Ukraine-Presseschau am 7. Mai 2023. Persönliche Hoffnung: Dass ich diesen Ukraine-Newsletter nicht mehr lange schreiben muss und dass die ukrainische Frühjahrsoffensive bald den Erfolg zeigt, der die Freiheit des Landes wiederherstellt. Wer diesen Newsletter weiterempfehlen mag: Sehr gerne.