Ukraine Bookmarks 522
Neue Bellonas Ukraine Leseliste am 522. Tag des Ukraine Kriegs (30. Juli 2023)
#UkraineBookmarks ist eine kuratierte und kommentierte Liste von Links zum Ukraine Krieg, die ich aktuell lesenswert finde und teilen möchte. Sie erscheint alle zwei Wochen. Ukraine Bookmarks ist eine Art bewerteter Mini-Presse-Reader zum schlimmsten und wahrscheinlich folgenreichsten Krieg in Europa seit 1945 mit den subjektiv lesenswertesten Posts dazu. Meinen anderen Newsletter
findet ihr hier.522 Tage Krieg: Reconquista
Wie alle 14 Tage kommt auch heute wieder meine völlig subjektive Zusammenfassung zu Russlands Krieg gegen die Ukraine.
Kurzer Intro-Text für neue Leser:innen:
Weil ich ein paar neue Leser:innen bekommen habe, eine kurze Zusammenfassung, warum ich diesen Newsletter herausgebe. Eigentlich bin ich Marketingstratege in Hamburg, habe aber Politikwissenschaften studiert, ein Buch über Nordkoreas Atomwaffen herausgegeben und eine lebenslange Leidenschaft für Sicherheitspolitik. Meinen sicherheitspolitischen Blog Neue Bellona gibt es seit 2015. Aber seien wir ehrlich: Bis 2022 war Sicherheitspolitik nicht unbedingt ein Hype-Thema. 😢 Neues Leben (und Interesse) bekam Neue Bellona tatsächlich erst mit dem Ukraine-Krieg, als Menschen feststellten, dass militärische Macht plötzlich auch wieder in unseren Alltag einzieht. Alle zwei Wochen fasse ich hier das zusammen, was ich aus ziemlich vielen Quellen abseits der SPIEGEL-Artikel über die Ukraine zusammenklaube. Denn tatsächlich muss ich sagen, dass - im Gegensatz zur aktiven OSINT Community und den internationalen Medien - die deutsche Presselandschaft in der sicherheitspolitischen Beurteilung des Ukraine-Kriegs bisher keine gute Figur macht. Ein inhaltlicher Disclaimer: Der Autor dieses Newsletters hofft und glaubt aus verschiedenen Gründen, dass die Ukraine diesen ihr aufgezwungenen Krieg siegreich ist 🇺🇦. Ich bin mir dennoch bewusst, dass “Hopium” ein gefährliches Gift ist. Die Situation ist sehr schwierig, der Ausgang ist ungewiss und die Gefahr, Russland zu unterschätzen, immer präsent. Ich bemühe mich um ausgeglichen analysierende Links, die die Kriegslage halbwegs realistisch einschätzen helfen.
Wer diesen Ukraine-Newsletter wertvoll findet, darf ihn sehr gerne teilen. Ich versuche, ihn ungefähr alle zwei Wochen zu versenden mit einem subjektiven Wrap-Up der Lage.
Und dann ist da noch ein letzter Grund, warum ich das tue: Wir machen es uns leider alle langsam schön gemütlich im großen Morden. Während der größte Krieg Europas gerade mal zwei Staatsgrenzen weiter tobt, scheint bei uns die Preisentwicklung von Lachsschinken das größte Problem zu sein. Dem ist nicht so. Fällt die Ukraine, haben wir auch im Westen ein Sicherheitsproblem, gegen das die letzten zwei Jahre nur ein kleiner Vorgeschmack waren. Das sorgt mich. Das treibt mich.
Der Stand
Jeder Tag des Ukraine-Kriegs generiert offensichtlich eine Myriade neuer Dramen, Herausforderungen und Themen, von denen die Hälfte wahrscheinlich ihr eigenes Buch wert wären. So traf heute Morgen (Sonntag) eine wohl ukrainische Drohne ein Moskauer Hochhaus und verursachte Schaden. Aber seien wir ehrlich: Daran wird sich schon übermorgen niemand mehr erinnern. Themen, wie Moskaus Ausstieg aus dem Getreideabkommen und die Blockade ukrainischer Häfen sind eigentlich große Themen, die in sich geschlossen besprochen gehören, aber dazu reicht hier der Platz einfach nicht. Ich würde hier gerne heute nochmal den Blick auf den Stand der eigentlich wohl wichtigsten Diskussion gerade lenken: den Stand der ukrainischen Gegenoffensive.
“Haha, die Offensive ist gescheitert”
Nach langer Vorbereitung startete die ukrainische Gegenoffensive rund um den 6. Juni 2023. Der genaue Startpunkt ist unklar, weil Offensiven keinen klaren Start- und Endpunkt haben, der als solcher gemeldet wird. Typischerweise beginnen Offensiven als Abtastversuche an vielen Stellen gleichzeitig. So auch hier. Mit nun fast zwei Monaten Laufzeit hat die ukrainische Reconquista aktuell keine gute Presse.
Sie kommt angeblich zu langsam voran
Die Verluste, gerade westlichen Materials wären zu hoch
Der Territorialgewinn in zwei Monaten wäre zu niedrig
Ohne Zweifel läuft die ukrainische Offensive nicht so schnell, wie gedacht. Der schlaue österreichische Oberst Reisner sah vor einigen Wochen die erste Phase als gescheitert an. Die Taktik Sturmangriff gegen gut vorbereitete russische Stellungen blieb in Minenfeldern und Artilleriebarrikaden liegen. Und das in einer Situation, in der Verteidigung (Russland) immer einfacher ist als Angriff (Ukraine). Klassisch geht man davon aus, dass es für einen gelungenen Angriff eine 3:1 Überlegenheit braucht. Russland hat in den letzten Monaten Zeit genug gehabt, tief gestaffelte, kilometerbreite Minenfelder und Abwehrsperrgürtel in der Ukraine zu bauen.
Natürlich hat sich die russische Seite glücklich über jeden explodierten westlichen Panzer gezeigt. Typischerweise wird jeder westliche Bradley oder Leopard, der es nicht schafft, aus 60 Blickwinkeln fotografiert, um das Bild einer komplett gescheiterten Offensive abzugeben und die hohen ukrainischen Verluste noch größer zu machen. Aber ja: Aktionen, wie dieser fehlgeschlagene ukrainische Angriff vor zwei Tagen, bei dem eine knappe Kompanie Schützenpanzer vernichtet wurde, schmerzen. Ich trauere um jeden ukrainischen Verlust.
Aber es gibt noch ein anderes, strategisches Problem. Jede Offensive bedeutet massiven Ressourcen-Einsatz der Offensivpartei. Der Ukrainekrieg ist ein Artilleriekrieg. Wer genug Granaten hat, kann vorrücken. Und hier liegt das Problem, Denn wie man in diesem SPIEGEL-Artikel lesen durfte, verfügt die gesamte Bundeswehr aktuell über 20.000 Artilleriegranaten des Typs 155mm. 2022 rechnete man, dass die Ukraine knapp 6.000 Granaten pro Tag (!!!) verbraucht. Heißt: Alle Bundeswehrbestände zusammengerechnet reichen in der Ukraine etwas über 3 Tage. Logistik ist key.
Vielleicht ist sie doch noch nicht gescheitert
Und dann gibt es wohl doch eine andere Wahrheit. Denn die Ukraine hat eben nach ersten Verlusten eine taktische Pause hingelegt und ihre Strategie justiert. Statt Sturmangriff tastet man sich nun langsam durch Minenfelder vorwärts - mit geringeren Verlusten, aber auch zum Preis eines langsameren Vormarschs. Die viel gescholtene Cluster-Munition wird nun zum Räumen von Minenfeldern genutzt und mittlerweile fährt man auch mit ferngesteuerten Uralt-Panzern durch tiefe russische Minenfelder, um sie zu entschärfen. Parallel zielt die Ukraine vor allem auf Artillerieüberlegenheit ab und vernichtet mit HIMARS russische Raketenwerfer, Logistik und Depots im Hinterland.
Resultat: Zumindest in Zaporizhzhia gab es gestern einen ersten dokumentierten Durchbruch durch die erste Verteidigungslinie der Russen. Leider wartet noch mindestens eine weitere große Verteidigungslinie auf die ukrainischen Truppen, bevor der Weg ans Asowsche Meer frei ist. Aber der ist dann frei. Und: Die Ukraine hat Reserven, die Russland nicht hat. Aktuell rechnet man mit knapp 5 gut ausgestatteten Brigaden, die die Ukraine für den Durchbruch noch vorhält.
Das Resultat sehen wir aktuell vor allem im Süden: Bricht die erste russische Verteidigungslinie bei Verbove, dann stehen vor der ukrainischen Armee noch weitere 9km bis zur zweiten Verteidigungslinie.
Durchbricht sie die, ist der Weg nach Süden zum Asowschen Meer relativ offen. Die Krim würde nur noch über die Krimbrücke von Russland versorgbar sein. Und wie fragil die ist, weiß man ja. Mögliche Wege führen die ukrainischen Streitkräfte über den Versorgungshub Tokmak (Bild unten) und dann nach Berdyansk oder Melitpol. (Frontverlauf unten ist vom 9. Juli, der oben ist aktuell).
Zusammengefasst:
Das ist alles eine Operation, die in Sachen Komplexität, Blutzoll und Lernkurve kein westliches Militär in den letzten 70 Jahren erleben musste. Die Ukraine führt einen Krieg gegen einen brutalen Gegner, der in dieser Form seit dem Zweiten Weltkrieg unbekannt ist - und das ohne Luftwaffe. Jede Häme können wir uns also definitiv sparen. Belehrungen auch, denn die ukrainischen Streitkräfte machen gerade unter hohem Blutzoll Erfahrungen, von denen andere NATO Nationen noch Jahre lernen können (Fun Fact: Deutsche BW-Ausbilder erklärten ukrainischen Soldaten, dass sie gegen Minen doch einfach um das Minenfeld herumfahren könnten. Das würden sie immer so machen.)
Wird die ukrainische Offensive erfolgreich sein? Meiner Ansicht nach ist das noch völlig unklar. Aber ich glaube, schon. Die nächsten Wochen werden wohl tatsächlich entscheidend, wenn der langsame Vormarsch defensive russische Linien durchbrechen kann oder auch nicht. Schafft die Ukraine das, kann ich mir einen recht schnellen, plötzlichen Zusammenbruch der Russen im Süden vorstellen - da könnte tatsächlich viel in kurzer Zeit wieder passieren. Aber wie gesagt: Es gibt viele mögliche Ausgänge. Viele davon sind nicht so positiv. Andere schon: Slava Urkaini!
Lesenswerte Links
Was man diese Woche gelesen haben könnte.
1. Pentagon bestätigt Beginn der Hauptphase der Offensive
New York Times, 28. Juli 2023
Die New York Times bestätigt auch aus Pentagon Kreisen den Beginn der Hauptphase der ukrainischen Offensive. Mit der Offensive im Süden seien nun Reserven eingesetzt worden, die noch zurückgehalten wurden. Schwerpunkt sei die Region um Orikhiv im Süden, wo man den Durchbruch versucht (siehe auch Karte oben).
2. US-Wähler bleiben Pro-ukrainisch
Washington Post, 29. Juli 2023
Ist es wichtig, dass auch die Mehrheit der Amerikaner der Verteidigung der Ukraine gewogen bleibt? Schließlich ist es Amerika, das der größte Unterstützer der Ukraine ist. Parallel arbeiten diverse, mal mehr, mal weniger von Russland unterstützte rechte Stimmungsmacher daran, die Meinung zu verändern. Resultat diverser Meinungsumfragen: Nicht mal unter den an jeden Mist glaubenden Republikanern wackelt die Unterstützung für die Ukraine. Je nach Lager glauben 70-75%, dass die Ukraine siegen muss.
3. Ukrainische Panzerverluste niedriger als gedacht
Forbes, 29. Juli 2023
So richtig geil fand man in Moskau Bilder von Westpanzern, die an die Ukraine geliefert wurden, und die schon in den ersten Tagen vor laufenden Kameras zerschossen wurden oder in Minenfeldern hängen blieben. Die fand man so gut, dass man sie gleich in verschiedenen Varianten geremixt und nochmal publiziert hat. Dumm nur, dass es etwas braucht, um einen Leopard 2 zu zerstören. Während Kreml-Trolle frei erfundene Zahlen von 68 zerstörten Leopard-Panzern fabulieren, beläuft sich laut Forbes die Gesamtzahl zerstörter Leopard 2 beläuft sich aktuell auf 3 Stück. Grund dafür: Man kann auch immobilisierte Leoparden gut abschleppen und reparieren. Rheinmetalls neues Reparatur-Zentrum in der Ukraine wird diesen Prozess sicher unterstützen.
Das war meine kurze Ukraine-Presseschau für heute. Persönliche Hoffnung: Dass ich diesen Ukraine-Newsletter nicht mehr lange schreiben muss und dass die ukrainische Frühjahrsoffensive bald den Erfolg zeigt, der die Freiheit des Landes wiederherstellt. Wer diesen Newsletter weiterempfehlen mag: Sehr gerne.