Ukraine Bookmarks 536
Neue Bellonas Ukraine Leseliste am 536. Tag des Ukraine Kriegs (14. August 2023)
#UkraineBookmarks ist eine kuratierte und kommentierte Liste von Links zum Ukraine Krieg, die ich aktuell lesenswert finde und teilen möchte. Sie erscheint alle zwei Wochen. Ukraine Bookmarks ist eine Art bewerteter Mini-Presse-Reader zum schlimmsten und wahrscheinlich folgenreichsten Krieg in Europa seit 1945 mit den subjektiv lesenswertesten Posts dazu. Meinen anderen Newsletter
findet ihr hier.536 Tage Krieg: Reconquista
Wie alle 14 Tage: Meine völlig subjektive Zusammenfassung zu Russlands Krieg gegen die Ukraine.
Guten Morgen,
mit jedem Tag, der diesen Sommer vergeht, entscheidet sich ein wenig mehr, wie sich das Kriegsglück in der Ukraine wendet. Und damit auch - wie ich fürchte - die gesamte Sicherheitsarchitektur in Europa mit massiven Folgen für uns. Die ukrainische Gegenoffensive läuft gegen die Uhr. Und sie hat klare Begrenzungen:
Rasputiza (“Schlammperiode”) im Herbst: Wenn irgendwann im Oktober/November die Straßen und Feldwege der Ukraine im Schlamm versinken, wird keine Bewegung mehr möglich sein - ebenso wenig wie im Winter.
Unterstützung im Westen: Je mehr uns erzählt wird, dass das alles ohnehin keinen Zweck hat und die Ukraine den Krieg praktisch bereits verloren hat, umso mehr werden weitere Ressourcen vor dem Land zurückgehalten. Der Aufstieg von AfD und die mögliche Wiederwahl von Trump 2024 steht ganz klar auf Putins Habenseite als Perspektive für den Krieg. Militärisch wird er den nicht gewinnen. Aber wenn seine Freunde im Westen siegen, könnte er ihn wenigstens nicht verlieren.
In dieser Zeit muss sich die Ukraine gegen die Uhr und wesentlich langsamer als gedacht durch die sog. Surowikin Line schieben. Benannt nach General Surowikin, handelt es sich dabei um kilometerdicke Verteidigungslinien in mehreren Schichten und mit Kilometern an Minenfeldern und Drohnen. Das ist kompliziert, dauert lange und die Ukraine hat keine Luftwaffe.
Unten ein Schnitt durch die gelben Schichten der der Surowikin Line in der aktuell besten Offensivposition bei Robotyne im Süden. Jede gelbe Linie bedeutet Kilometer an befestigten Hindernissen.
Die Ukraine schlägt gerade eine Schlacht, die im Westen keine einzige Armee schlagen musste. In der Geschichte des modernen Militärwesens gibt es keinen vergleichbaren Prozess, deshalb reagieren ukrainische Soldaten zunehmend genervt auf NATO Tipps. Zwar ist man dankbar für Ausrüstung und Trainings. Dennoch zeigt sich zunehmend, wie absurd es ist, wenn deutsche, schwedische und britische Ausbilder, die nie einen Krieg erlebt haben, den mittlerweile kampfgestählten Ukrainern den Krieg erklären: “Die verstehen nicht die Art Krieg, den wir gerade kämpfen” sagte ein Ukrainer im Interview.
Die Ukraine selbst will den westlichen Teil des russisch besetzten Gebiets und die Krim vom Rest abtrennen. Wenn die Russen dort keine Logistik mehr haben besetzt man das Gebiet und nimmt sich des Rests an. So der Plan. Darum ist der Durchbruch im Süden so wichtig. Zwischen der aktuellen Frontlinie und dem Azowschen Meer fehlen 80km. Dann ist der Südwesten für Russland nicht mehr versorgbar.
In die selbe Kerbe schlägt die ukrainische Strategie, die Halbinsel Krim zur Insel Krim zu machen. Am Samstag der vierte (wohl fehlgeschlagene) Angriff auf die Kertsch Brücke, die die Krim mit Russland verbindet. Und das im hellen Tageslicht mit fotografierenden russischen Urlauber:innen.
Und dann natürlich noch die Angriffe auf die übrigen Brücken, die die Krim mit Russland im Süden oder den russisch besetzten ukrainischen Gebieten im Norden verbinden. Getroffen wurden dabei vor allem die wichtigen Henichesk und Chonhar Brücken, die die Krim logistisch versorgen.
Hier ist übrigens auch der Use-Case für die aktuell diskutierte Lieferung der deutschen Taurus Marschflugkörper. Diese hochwertigen Abstandswaffen sind dazu da, Brücken und Depots - also strategisch wichtige Ziele - auf Distanz zu vernichten. Ein typisches Ziel für den deutschen Taurus wäre eine Bahnbrücke oder eben auch die Kertsch-Brücke. Und diese Verbindungen muss die Ukraine abschneiden, um die Krim in in eine Insel zu verwandeln, die keinen militärischen Nachschub mehr bekommt. Wer übrigens dem “Taurus verlängert den Krieg”-Bullshit aufsitzt. Das Gegenteil ist der Fall. Logistik abschneiden verkürzt Kriege und macht sie faktisch auch unblutiger. Wo keine Waffen und kein Sprit, da kein Krieg.
Lesenswerte Links der Woche
Was man diese Woche gelesen haben könnte.
1. “Ukraine macht taktisch signifikante Fortschritte an zwei Achsen
NY Times, 12. August 2023
Kurzer, lesenswerter, aktueller und recht gut informierter Zwischenstand der ukrainischen Offensive. Die wird gerne ja schon abgeschrieben, unterstützt von viel Kreml-Störfeuer und russischem Propaganda Nonsens für die Twittersphere. Ich glaube aber, dass wir diesen Spätsommer noch einige Überraschungen von Seiten der Ukraine sehen werden. Der Artikel gibt einen guten Überblick über die beiden wesentlichen ukrainischen Keile, die sich gerade durch kilometerdicke, verminte Verteidigungslinien Richtung Melitopol und Berdyansk schieben. Und wie bereits beschrieben: Wenn die 80km überwunden werden sollten, hat Russland ein massives Problem.
2. “Die Schlacht von Hostomel: Als Russland seinen Krieg verlor”
War on the Rocks, 10. August 2023
Die Autoren dieses Artikels - Collins, Kofman und Spencer - haben sich in den letzten 18 Monaten des Horrors in der Ukraine als einige der schlauesten und bestinformiertesten Kommentatoren bewiesen. Dieser Artikel ist sicher harter Tobak, lohnt sich aber zu lesen, wenn man sich für Taktik interessiert. Material zur Schlacht von Hostomel habe ich hier ja schon ein paar Mal verlinkt. Ein Airport, der ganz nach sowjetisch/russischer Doktrin schnell unter Kontrolle gebracht werden sollte, um dann Truppen einzufliegen. Russlands überraschende Hostomel Operation misslang, weil die Ukraine schnell reagierte. Hätte dieser Paukenschlag anders geendet, wäre Kiew jetzt möglicherweise besetzt. Chronik einer gescheiterten Operation, die als Verteidigungscase künftig in Militärakademien gelehrt wird.
3. “Warum gebt ihr nicht einfach Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommern auf?” - General Ben Hodges im Interview (Ex-Oberbefehlshaber US Army Europe)
Tagesspiegel, 5. August 2023
General Ben Hodges ist einer der schlauesten Kommentatoren des Ukraine-Kriegs aus US-amerikanischer Sicht. Der Ex-Militär kommentiert gewohnt scharfsinnig im Interview mit dem Tagesspiegel, dass der Westen immer noch die Gangart mit Moskau zu zögerlich und widersprüchlich zum Nachteil der Ukraine fährt: “Bismarck hat einmal gesagt, dass kein Vertrag mit Russland das Papier wert ist, auf dem er geschrieben steht. Es wäre naiv, zu glauben, dass sich das ausgerechnet jetzt ändert.“ Dazu ist nicht mehr zu sagen. Lesenswertes Interview.
4. Deutschland verfehlt mal wieder das 2%-Ziel
Süddeutsche, 9. August 2023
Okay, welchen Teil von Problem hat Deutschland nicht verstanden? Volle 1,5 Jahre nach Beginn eines brutalen, breit angelegten und uns selbst bedrohenden Angriffskrieges durch Russland (mit ungewissem Ausgang) verfehlt Deutschland wieder einmal das NATO-2% Ziel - und das trotz Sondervermögen. Damit rüstet die geplagte Bundeswehr nicht nur nicht auf. Wir verlieren noch an Substanz, weil Statuserhaltung mit Abzug der Lieferungen an die Ukraine ein Minus bedeutet. Absolut unfassbar - speziell, wenn man die Entwicklung von Bedrohungsszenarien und die Langsamkeit von Rüstungsprogrammen vergleicht. Etaterhöhung heute bedeutet Anschaffung in 7 Jahren.
5. Fröhliches Appartment-Hunting im vernichteten Mariupol
BBC, 6. August 2023
Es gibt viele Facetten, die den russischen Angriffskrieg in der Ukraine so besonders archaisch machen. Eine davon ist die Rigidität, Frechheit und Absolutheit, wie russische Institutionen und Individuen anderer Menschen Eigentum stehlen. Beispiel Immobilien. Gestern wurde offenbar, dass die nicht einmal besetzte ukrainische Großstadt Zaporizhzhia komplett als Immobilie in russischen Datenbanken aufgeführt ist. Im komplett vernichteten Mariupol (Bild oben), in dem immer noch tausende von Opfern in den Trümmern liegen, werden jetzt Neubauwohnungen ans Meer gebaut, die sich Russ:innen jetzt kaufen. Gönn dir.
Fun fact: Russland hat Mariupol zur Schwesterstadt von Grozny gemacht. Macht Sinn. Die beiden Städte haben ja durchaus was gemein.
Das war meine kurze Ukraine-Presseschau für heute. Persönliche Hoffnung: Dass ich diesen Ukraine-Newsletter nicht mehr lange schreiben muss und dass die ukrainische Frühjahrsoffensive bald den Erfolg zeigt, der die Freiheit des Landes wiederherstellt. Wer diesen Newsletter weiterempfehlen mag: Sehr gerne.