Ukraine Bookmarks 548
Neue Bellonas Ukraine Leseliste am 548. Tag des Ukraine Kriegs (25. August 2023)
#UkraineBookmarks ist eine kuratierte und kommentierte Liste von Links zum Ukraine Krieg, die ich aktuell lesenswert finde und teilen möchte. Sie erscheint alle zwei Wochen. Ukraine Bookmarks ist eine Art bewerteter Mini-Presse-Reader zum schlimmsten und wahrscheinlich folgenreichsten Krieg in Europa seit 1945 mit den subjektiv lesenswertesten Posts dazu. Meinen anderen Newsletter
findet ihr hier.548 Tage Krieg: Reconquista
Wie alle 14 Tage: Meine völlig subjektive Zusammenfassung zu Russlands Krieg gegen die Ukraine und wie er sich entwickelt. Ich muss vorweg schicken: Ich bin Team Ukraine, versuche aber trotzdem Chancen und Risiken realistisch einzuschätzen. Ja, ich weiß.
Heute mal ein Update am Freitag Abend.
Seien wir ehrlich: seit 2 Wochen hat sich zumindest kartenmäßig nicht viel getan. Zumindest, wenn der Zoomfaktor der ukrainischen Gegenoffensive auf dem maximalen Auszoomlevel bleibt.
Ebenso wie bei der russischen Winteroffensive hat sich die Front im Süden und im Osten nur um wenige Kilometer verschoben. Mariupol, Melitpol, Berdyansk und die Krim liegen +90km von den Spitzen der ukrainischen Armee entfernt und es sieht nicht so aus als ob die Ukraine den Durchbruch schafft bevor der Herbst einbricht und damit die Rasputiza - die Schlammperiode.
Zugegeben: Das ist eine Sichtweise, die gerade in Presse und Blogsphäre dominiert - natürlich fröhlich flankiert von Putins Trollarmee, die die Nachricht in die Welt rausposaunt, dass die ukrainische Offensive gescheitert sei. Ich halte das für Psychologische Kriegsführung.
Die Reconquista der Ukraine wird anders verlaufen, als man sie sich in deutschen Medien angelesen hat. Ein Indikator ist das hart umkämpfte Dorf Robotyne im Süden, in dem die Ukraine gerade eine der wichtigsten Schlachten dieser Phase des Krieges gewinnt.
Robotyne liegt direkt an der Surowikin Linie - die befestigte Verteidigungslinie der Russen. Diese ist gesäumt von Kilometern an Minen und Befestigungen, Bunkern und Hindernissen jeder Art. Hinter Linie 1 folgen weitere Hindernisse bis zu einem zweiten Layer der Surowikin Line, der allerdings schwächer ist. Es scheint, als ob hier in den nächsten Tagen ein ukrainischer Durchbruch stattfinden könnte.
Findet dieser Durchbruch statt, hat Russland ein Problem. Denn eine einzige Bahnlinie versorgt Donbass/Russland im Osten und die besetzten Regionen Zaphorizhzhia, Kherson im Krim. Diese Strecke muss nicht mal besetzt sein, um logistisch nicht mehr nutzbar zu sein. Feuerkontrolle reicht - die Ukraine muss nur soweit kommen, dass sie in Artilleriereichweite ist. Das sind knapp 10-15km aktuell.
ach wie vor gilt, dass das Ziel der aktuell stattfindenden Offensive der Schnitt zum Azowschen Meer ist. In einer idealen Welt schafft die Ukraine das - wohlgemerkt leider unter viel zu hohen Opfern und mit vielen Toten und Verletzten - vor dem Herbst. In einer weniger als perfekten Welt schafft sie es zumindest, dass die Logistik in den Westteil der besetzten Gebiete schwer bis unmöglich wird. Primär- und Sekundärziel. Es gibt verschiedene Formen zu gewinnen (oder zu verlieren).
Abseits von der ukrainischen Gegenoffensive war natürlich vor allem der Tod/Abschuss des russischen Warlords Prigozhin das Absurdity Highlight der Woche. Dass ein Mann wie Prigozhin gut sichtbar am helllichten Tag in seinem Flieger abgeschossen oder weggebombt wird (so dass alle Filmen können), zeigt, in welchem Zustand sich Russland unter Putin befindet.
Was auch immer Prigozhins gar nicht so verfrühtes Ableben bewirkt hat: Man sollte seinen Tod in Russland und der Welt sehen. Man hätte ihn auch einfach irgendwo in einer dunklen Ecke einen Stein über den Kopf ziehen können. Aber das wäre zu unsichtbar gewesen - ebenso wie bei den anderen recht aufwändigen Morden, bei denen man sogar radioaktive Materialien in den Westen schmuggelte, war Visbilität das Ziel. Wer Polonium Tee serviert, will gesehen werden.
Die Zeichen sind mehr als offensichtlich: Wenig lässt einen denken, dass es - exakt 2 Monate nach seiner Meuterei - ein Zufall war. Nichts deutet darauf hin, dass Putins Rede, in der er heute den Tod Prigozhins “betrauerte”, a) es ernst meinte oder b) die explizite Erwähnung von Prigozhins Geschäften in Afrika (“Öl, Gas, Seltene Erden…”) nicht eines der Motive waren, die den Paten des “Mafia-Staats Russland” (Ukraine War Podcast) am meisten interessierten. Denn am Ende ging es wohl um zwei Themen: Die Ehre in einem mafiösen Gebilde und um die Geschäfte, die mit lukrativen Seitengeschäften (Afrika) gemacht werden konnten.
Wie es Professor
in seinem Newsletter schrieb:That Putin did this should surprise no one. He has regularly assassinated, usually in very public and often gruesome ways, those who have represented political threats to him or who he views as traitor. It seems that in this case he needed a few months to neutralize Wagner as much as possible, to replace its influence in places such as Africa with loyal henchmen, and then acted.
Kurz: Putin wollte natürlich ein sehr sichtbares Exempel statuieren. Sein Warlord Prigozhin war nur so mächtig geworden, dass er ein paar Vorkehrungen treffen musste vor der Exekution - inklusive ein paar Business-Entscheidungen, was seine Geschäfte in Afrika betraf. Erst dann durfte zugeschlagen werden. Die öffentliche Exekution fand vorgestern statt.
Lesenswerte Links der Woche
Was man diese Woche gelesen haben könnte.
1. Ukrainer:innen lehnen jeglichen Kompromiss mit Russland ab
DIF, 22. August 2023
In einer weiteren repräsentativen Umfrage zeigt die Democratic Iniatives Foundation der Ukraine, dass es in der Ukraine durchaus auch eigene Meinung zum Verlauf des Kriegs gibt und wie sich der entwickelt. Über 90% aller Ukrainer:innen lehnen jede Form von territorialen Kompromiss mit Russland ab. “Weniger als 5 % der Ukrainer sind bereit, territoriale Zugeständnisse zu machen, um den Krieg zu beenden. Etwas mehr Ukrainer – 18 % – äußerten ihre Bereitschaft, auf die zukünftige Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO zu verzichten.” Nennt mich verrückt. Aber vielleicht sollten sich manche deutschen “Intellektuellen” mal mit dem Willen der Ukrainer:innen beschäftigen als nur über sie in der dritten Person zu reden. Sonst könnte man ihnen am Ende noch koloniale Denke vorwerfen. Scheinbar hat man trotz aller Kriegsmühen in der Ukraine eine Meinung zur eigenen Zukunft und wie viele Opfer man dafür geben möchte.
2. Was die NATO lernt
National Defense Magazine, 18. August 2023
Schon klar. Zwischen all der völlig bescheuerten Kreml Propaganda ist es schwierig, sich vorzustellen, dass die NATO auch gerade lernt. Tut sie aber. Und zwar massiv. Der Ukraine Krieg fordert zwar die NATO auf allen Ebenen in Sachen Waffenlieferungen. Realität ist aber auch, dass einen solchen Krieg seit 70 Jahren niemand mehr führen musste. Nennt es zynisch, aber es ist so: Die NATO testet in der Ukraine auch gerade Material und Doktrin. Und dabei lernt sie in beiden Dimensionen mehr als ihr lieb ist. General Hecker - Chef der US Air Force in Europa und Afrika - sagt in diesem Artikel, was die US-Armee gerade lernt….
3. Das 2% Ziel des Verteidigungsministeriums wackelt
FAZ, 22. August 2023
Wo wir gerade bei “lernen” sind. Wer nichts lernt, ist scheinbar die Bundesregierung. Ist schon klar, das Geld ist knapp. Aber am Ende des Tages sind wir in Monat 20 nach Beginn der zweiten Phase eines großangelegten imperialistischen Angriffskrieges Russlands und die Idee der “Zeitenwende” schlägt sich realpolitisch in nichts nieder. Die von Links und Rechts als Mega-Aufrüstung geschmähte “Zeitenwende” kommt nicht an. Der Verteidigungshaushalt sinkt sogar trotz Sondervermögen.
Unfassbar.
4. Und dann war da noch die Sache mit Arrow 3
Defense Archives, 20. August 2023
Irgendwann zu Beginn der Ausschüttung des Sondervermögens wurde über die Anschaffung eines Raketenabwehrsystems namens Arrow 3 geredet. Arrow 3 stammt aus Israel und soll Deutschland vor russischen Raketen schützen, falls sie je kommen. Raketenabwehrsysteme sind komplex und nur wenige Staaten können sie bauen. Arrow 3 ist neben Iron Dome eines der aufeinander aufbauenden Multilayer-Verteidigungskonzepte für Israel, um sich einseits gegen Kurzstreckenraten aus Gaza (Iron Dome) und gegen mögliche Mittelstreckenraketen aus dem Iran (Arrow 3) zu verteidigen. Klingt alles gut und richtig, nur dass Russland derzeit keine ballistischen Mittel- oder Langstreckenraketen gegen Deutschland am Start hat. Russische Interkontinentalraketen wirken im Ernstfall gegen die USA, nicht aber gegen Deutschland. Russische ballistische Mittelstreckenraketen wurden mit der SS-20 abgeschafft. Bleiben “nur noch” Marschflugkörper und Kurzstreckenraketen des Typs Iskander, über die Russland verfügt. Leider wirkt Arrow 3 dagegen nicht.
Preisfrage: Warum kaufen wir für viel Geld das wenig sinnvolle Arrow 3 statt Rucksäcke und klassische Artillerie, die wir tatsächlich brauchen?
Das war meine kurze Ukraine-Presseschau für heute. Persönliche Hoffnung: Dass ich diesen Ukraine-Newsletter nicht mehr lange schreiben muss und dass die ukrainische Frühjahrsoffensive bald den Erfolg zeigt, der die Freiheit des Landes wiederherstellt. Wer diesen Newsletter weiterempfehlen mag: Sehr gerne.